2004 bin ich mit Jonathan Safran Foer durch die Ukraine gereist – mit seinem Buch „Alles ist erleuchtet“ (2003). Anhand eines vergilbten Fotos suchte der jüdische Amerikaner mit mir nach Augustine, einer alten Frau, die, als die deutsche Armee 60 Jahre zuvor versuchte, alle ukrainischen Juden zu töten, seine Familie versteckt und versorgt hat. Alex und sein Großvater würden uns fahren. Wir trafen uns in Odessa. Unser Ziel war Trachimbrod. Jonathan wusste, dass ich kein Jude bin und dass mein Vater einer jener Armeeangehörigen war, die in Russland und der Ukraine unter den Einheimischen so gewütet hatten, dass sie später nicht mehr darüber sprechen wollten. Jetzt sind es nicht mehr die Deutschen, die in der Ukraine wüten, sondern die Russen. Und sie töten keine Juden, sondern Ukrainer. Mich verwirrt dieser Wechsel, und ich trete einem ukrainischen Flüchtling in Aachen nicht ohne Skrupel entgegen; er könnte mir den Satz entgegenschleudern: was die Russen jetzt mit uns tun, habt ihr vor 60 Jahren getan! Ich schäme mich für die Deutschen damals und die Russen heute gleichermaßen.
Jonathan und ich suchten nicht die Reste einer geplünderten jüdischen Kultur, sondern Spuren jener Frau, die mutig für seine Familie im Versteck gesorgt hatte. Wir hörten viele Geschichten von Verfolgungen, Morden, Scheiterhaufen und Massengräbern – und seltsame Erzählungen von Epiphanien, Ereignissen leuchtender Wunder, die uns erschütterten und mir noch heute vor den Augen stehen. Der Krieg der Russen und der Ukraine heute ist ein anderer, aber er enthält jenen Bodensatz der Erinnerungen, in dem der Nationalsozialismus der Vierzigerjahre am kräftigsten stinkt.
Meinem Sohn habe ich das zweite Buch von Jonathan geschenkt, in dem er von der Schande berichtet, Fleisch zu essen.
2004 I traveled through the Ukrainia with Jonathan Safran Foer – with his book „Everything is illuminated“ (2003). A historic portrait photograph served the Jewish American to seek Augustine, an Ukranian woman who had hidden, protected and cared for his family in the time of the Nazi persecutions. The Ukranians Alex and his grandfather would bring us from Odessa to Trachimbrod. Jonathan knew that I was not a Jew and that my father had belonged to those military forces who prefered not to talk about the massacres which they had committed in Russia and Ukrainia. Now no Germans kill Jews, but Russians kill Ukranians. The change disturbs me. I fear meeting a Ukranian fugitive in Aachen who would shout at me: They do to us what you did 80 years ago! I am ashamed for the Germans of the 20th century and the Russians of today.
Jonathan was not so much interested to find spoils of the plundered Jewish cultural history but traces of memories about this woman Augustina and other people who spoke about shelters, crimes, mass murders and told strange stories about epiphanies, heavenly lights and sounds, miracles which have remained in my memory until today.The war between the Russians and the Ukranians is quite different from the German invasion 80 years ago but contains still the foul smelling Nazi sediment of the past.
My son reads now Jonathan´s book about the shame to eat meat.
Stadt Aachen
Neue Galerie im Alten Kurhaus
1.
Klischee und Antiklischee
Bildformen der Gegenwart
Ausst.kat. Lose Blätter in DIN A 4-Mappe
Aachen, Februar 1970
Wolfgang Becker
Klischee und Antiklischee
Von einem Klischee werden Abertausende von Abbildungen in Zeitungen, Zeitschriften, Büchern, auf Plakaten, Prospekten und Faltblättern gedruckt, die Millionen Menschen sehen. Das Klischee ist eine Erfahrung, die ihnen gemeinsam ist. Je häufiger eine Nachricht wahrgenommen wird, umso tiefer dringt sie ein. Sie schafft gleiche Sackgassen in den Denkvorgängen von Millionen. Wenn eine Gesellschaft nicht stark genug ist, Gegenkräfte zu entwickeln, um das Feld der menschlichen Mitteilungen offen zu halten, beginnen ihre reizbarsten Mitglieder zu rebellieren. Die Künstler greifen regulierend ein. Die Gesellschaft versteht, dass ihre Mithilfe lebenswichtig ist.
Als man die Klischeehersteller „Geheime Verführer“ nannte, entstand die pop art. Sie entlarvte, indem sie mit den Klischees zu spielen begann, Distanz zu ihnen schuf, sie der Lächerlichkeit preisgab. Die Verführer erschienen plötzlich nicht mehr geheim, ihr manipulierendes Spiel wurde durchschaubar. Pop Art stürzte die Werbeindustrie in eine Krise. Sie wurde unglaubhaft, ihr Selbstverständnis geriet ins Wanken. Im Rückblick zeigt sich, dass wir diese decouvrierende, Geheimnisse lüftende Wirkung viel stärker bewertet haben als die künstlerische Qualität der Bewegung. Was alles ist unter dem herrlich einprägsamen Titel subsummiert worden! Und wir hielten Pop Art für die amerikanische Malerei um 1960 schlechthin!
Heute verinselt die Gruppe um Andy Warhol, Tom Wesselmann, Roy Lichtenstein, Robert Indiana und Richard Hamilton zusehends. Der Kreis wird enger und kompakter. Mel Ramos scheint uns nicht mehr dazuzugehören. Wir stellen ihn Wesselmann gegenüber: dort Pop Art, hier „Neuer Realismus“? Wir hängen Warhol neben Guttuso und Erro: dort der kalte Klassiker (man vergleicht ihn mit Poussin), hier die engagierten Revolutionäre.
Ihre künstlerische Qualität haben wir unterschätzt. Die Druckereien haben sich ihrer Werke bemächtigt und prächtige Klischees gemacht, die Bekleidungsindustrie nahm ihre Motive auf, Lichtensteins Rasterungen tauchten in Anzeigen, Plakaten, auf Textilien, in Badezimmern, auf Kaffee-Services auf, Pop Art wurde selbst zum Klischee.
Einige wenige haben sich nicht bluffen lassen, haben die formalen Qualitäten dieser Künstler betont – einige wenige wussten, dass Pop Art nur e i n Phänomen der zeitgenössischen Malerei war, freilich ein extremes, freilich ein immens populäres. Ganz unpopulär waren die Abstrakten, die zäh an ihren Farbtafeln laborierten. Sie schufen ein wichtiges Antiklischee.
Sie zeigen nicht mehr die Selbstbespiegelung, das subjektive Bekenntnis, das bei ihren Vorgängern eine wichtige Rolle spielte. Objektivierung wird deutlich in den Verfahrensweisen: geometrische Konstruktion, Handschrift verneinender Acryl-Anstrich, Farbpunktierungen, Spray. Farbtheoretische Schaubilder werden vermieden, synästhetische Lehrsätze verhüllt. Das Betrachtererlebnis soll nicht analytisch, sondern synthetisch sein. Bilder vermitteln nicht rationale Erkenntnisse, , sondern Stimmungen, zielen auf meditative Gemütszustände. Utopien werden projiziert. Franz Werfel beschrieb im „Stern der Ungeborenen“ ein Habitat ohne Lichtquellen, in dem Wände aus sich selber leuchten, in dem nackte Menschen sich von Raum zu Raum mit einem anderen Licht bekleiden; eine „psychedelische“ Welt ohne Autos, Fernsehen, Reklame – eine Anti-Pop-Welt. Die Bilder dieser Ausstellung ( von Joe Baer, Lewis Stein, Lawrence Stafford und Peter Young) sind Äußerungen dieser neuen Utopie. Sie schildern uns einen Bezirk amerikanischen Geisteslebens, der sich auf anderer Ebene (vor allem in Kalifornien) in Hippie-Kulturen und religiösen Sektierungen deutlich macht. Diese junge Generation, die Kenneth Noland und Morris Louis verehrt, die impressionistischen Seerosenbilder von Monet bewundert, arbeitete bereits, als Pop Art durch Europa zog. Damals waren sie unpopulär, heute sind sie repräsentativ.
Ging Pop Art an jenen vorbei, bezog sie allenfalls von ihnen die künstlerische Kontrolle, so war ihre radikalen Wendung zur Interpretation menschlicher, gesellschaftliche, politischer Erscheinungen doch von solcher Schubkraft, dass ein neuer Gruppenstil, den die Amerikaner „Neuer Realismus“ nennen, sich auf den Ergebnissen ihrer Arbeit aufbaute. Neuen gesellschaftlichen Entwicklungen war Rechnung zu tragen. Zeichnete Rauschenberg das Aufbruchs-Pathos der Kennedy-Ära, analysiert Warhol mit distanzierter Kälte die Klischees einer uniformierten optimistischen Wohlstandsgesellschaft – in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts trat schmerzend der Widerspruch zwischen Mondlandung und Vietnam, Volksbildung und Studentenunruhen, Sozialismus und Rassenkrawallen in das künstlerische Bewusstsein. Das Engagement verschärfte sich und stellte zum x-ten Mal die Kunst in Frage. Eine Möglichkeit war das Agitationsbild. Wir zeigen, was Guttuso und Erro von Warhol und Vostell unterscheidet. Eien Wirkkraft durch Kombinatorik, durch das vergleichende Aufzeichnen einiger Tatsachen, die die Klischeefabrikanten vermittelten, erscheint ihnen zu gering. Sie produzieren widerstandsfähige Antiklischees: die vereinigten Revolutionäre der Welt dringen in ein amerikanisches Wohlstandsschafzimmer ein.
Das Engagement verschärfte sich. Die Enttabuisierung der Sexualität beginnt, Langeweile zu erregen. Allen Jones zeigt die Sättigung. Nackte Frauenfiguren werden zu Möbeln eines vorstellbaren Salons. Mel Ramos schafft Utopien eines neuen Garten Eden, in dem „Göttinnen“ des 20. Jahrhunderts spielen.
Das Engagement verschärfte sich. Soziale Bindungen schrumpfen zu Beziehungen der Liebe und Freundschaft. Die Psychologie gewinnt neue Bedeutung. Segal, der in seinen Gipsabformungen nur Freunde und Vertraute darstellt, wird nicht mehr der Pop Art zugewiesen. Der junge Chuck Close malt minutiös riesige Fahndungsbilder seiner engsten Nachbarn. Die Künstler finden ein neues Selbstverständnis. Sie integrieren sich nicht mehr, sondern isolieren sich von der Gesellschaft, ziehen sich in Kreise von Vertrauten, in meditative Musik- und Rauscherlebnisse, in Landhäuser oder gar die Wüste zurück.
Die Landschaft wird ihnen zum Thema. Sie analysieren sie mit geodätischem Kalkül wie Smithson, sie malen Wasserfälle und romantisch karge Gebirgslandschaften wie Nesbitt und Richter. Sie interessiert nicht mehr das Landschaftserlebnis des Autofahrers wie D´Arcangelo und Wesselmann. Sie suchen die Sicht des einsiedelndes Wanderers.
Den jungen Künstlern fehlt die urbane Gelassenheit, die der Pop-Generation wichtig war. Ihr Verhältnis zur gesellschaftlichen Wirklichkeit ist gespannt. Sie sind irritiert. Sie verwenden nicht mehr mit Selbstverständlichkeit Materialien der Massenmedien in ihren Bildern, sie setzen nicht mehr Fotografien in ihre Werke ein, sondern malen forciert Foto- und Fernsehbilder in ungewohnten Größen nach. Sie widmen sich ausgefallenen Motiven.
Nancy Graves studiert fanatisch alles über Kamele, um diese Tierart – und nichts anderes – in ihren verschiedenen Erscheinungsformen lebensgetreu und in originaler Größe nachzubilden. Sehnsüchte machen sich geltend, die in der Kunstgeschichte häufig Motive der Landschaft, des Orients, der Freundschaft und der Liebe suchten, um sich verbildlichen zu können.
Technische und Alltagsgegenstände gewinnen neue Ausdrucksqualitäten. Deutete noch Klapheck Schreib- und Rechenmaschinen personifizierend um, so genügt es Nesbitt und Gnoli, Computer und Kleidungsstücke kalt und ohne Überdeutung darzustellen. Es geht genug von ihnen aus. Ein Ding gemalt zu sehen, das man von Fotografien oder aus dem Fernsehen kennt, bedeutet Artschwager, Richter, Nesbitt genügend Irritation.
Sie besinnen sich auf ihre Quellen. Die populäre Kunstgeschichte ist nicht mehr nur als Versatzstück interessant. Die Mona Lisa verliert an Wert. Gemälderestauratoren und Museumskünstler werden entdeckt: Deem malt in angepasstem Duktus Werke alter Meister nach und setzt sie in neue Kombinationen, Graziani nutzt Heldenporträts der Vergangenheit, um US-patriotische Bilder zu schaffen. Es bedarf plötzlich nicht mehr des täglichen Werbefernsehens, sondern einer Portion Geschichtswissen, um ihre Gemälde zu lesen.
Diese Kunst spiegelt unsere Tage und ist doch Zukunftsprojektion wie jede andere vor ihr. Sie zeigt Missstände an. Sie scheint ernster, bedachter, weniger kapriziös und jugendlich unbekümmert als Pop Art. Sie tritt mit dem großen Anspruch der Originale auf. Es gibt kaum Reproduktionsgrafik, sie ist nicht multiplizierbar.
Die beiden Gruppenstile, die wir in der Erstausstellung der NEUEN GALERIE zur Diskussion stellen, nennen die amerikanischen Kritiker „Lyrische Abstraktion“ und „Neuer Realismus“. Wir konfrontieren sie mit älteren Werken der sechziger Jahre, um ihre Merkmale hervorzuheben. Wir sind glücklich, in Deutschland künstlerische Informationen aus erster Hand, Nachrichten über die jüngste Kunst anbieten zu können und danken dem Sammlerehepaar Ludwig herzlich dafür, diese Möglichkeit geschaffen zu haben.
Wolfgang Becker
La preparazione dell´occhio digitale
in. Ausst. kat. Iperrealisti. Rom 2003
deutsches Manuskript:
DIE VORBEREITUNG DES DIGITALEN AUGES
„Während ich im kärglich möblierten Zimmer in Versailles die Nähmaschine meiner Wirtin abmalte, dämmerte mir, dass dies mehr werde als nur das Abbild eines bescheidenen Gegenstandes der Haushaltstechnik. In den geschwungenen Linien des Nähmaschinenleibes, im schimmernden Kopf mit Fadenführer, Fuß und Nadel erkannte ich Lilo wieder, von der ich mich kurz zuvor im Streit getrennt hatte. Ein Teil meines und ihres Kummers war in das Bild eingeflossen, das ich für mich – ich wagte es zunächst keinem zu sagen – „Die gekränkte Braut“ nannte.“
(Anmerkung 1)
Das kleine Gemälde „Die gekränkte Braut“, dessen Geschichte der deutsche Maler Konrad Klapheck hier erzählt, ist eines jener realistischen Bilder der Mitte des 20. Jahrhunderts, die im Widerstand gegen die damals herrschende Doktrin der abstrakten Malerei entstanden und erst zwanzig Jahre später häufig ausgestellt wurden, als die Pop Art, der Nouveau Réalisme und die Hyperrealisten in den Kunstzentren Amerikas und Westeuropas im Vordergrund kunstkritischer Auseinandersetzungen standen. Klaphecks Schilderung jener „Aneignung“ und „Verwandlung“ einer Nähmaschine suggeriert, dass der Gegenstand sorgfältig und getreu abgebildet, zugleich aber einer Metamorphose ausgesetzt wurde: das Bild der Nähmaschine ist ein „surrealistisches“ Porträt Lilos, seiner Braut. Der Titel als wichtiger Teil des Bildes öffnet den Zugang zur Bilderzählung.
Klaphecks Bilder wie die von Domenico Gnoli, Alex Colville, Philipp Pearlstein, Claudio Bravo und anderer forderten um 1970 Aufmerksamkeit, weil sie ein hohes Maß handwerklicher Meisterschaft, eine altmeisterliche Feinmalerei vorführten, die sich manifesthaft gegen die „Verwilderungen“ der zeitgenössischen Malkultur wendete. Aber die Rückkehr zum Tafel- und Staffeleibild, zum kunstvoll hergestellten Wertgegenstand eines gerahmten Gemäldes war das einzige, was diese Gruppe mit jenen jungen „Realisten“ verband, die in eine intensive Auseinandersetzung mit dem Medium der zeitgenössischen Fotografie eingetreten waren. Die „promotion campaign“, die sie durchsetzte, wurde von New Yorker Händlern wie Ivan Karp (O.K.Harris Gallery) und Louis K. Meisel gelenkt, und in der Kasseler Documenta 1972 stellte Jean Christoph Ammann die Gruppe, verbunden mit einigen Europäern ( Jean Olivier Hucleux, Franz Gertsch), großflächig vor. In den Museen, die Werke der Sammlung Ludwig verwalten, ist sie bis heute am besten vertreten.
„Ce qui me fascine, c´est ce regard pur, dépouillé, stérilisé, rincé de toute matière, d´une candeur en quelque sorte mathématique ou angélique, ou disons simplement photographique, mais quelle photographie : en qui ce peintre, reclus à l´intérieur de sa lentille, capte le monde extérieur. » (Anmerkung 2)
Diese Zeilen schrieb im 19. Jahrhundert der französische Kunstkritiker Claudel vor einem Bild von Vermeer van Delft. Er beschreibt den Maler als Gefangenen seines Augapfels und nennt seinen Blick fotografisch, weil er pur, von Rücksichten befreit, sterilisiert, reingewaschen von Schmutz, von mathematischer oder engelhafter Klarheit sei. Er nimmt einen Diskurs über das fotografische Sehen auf, der bis heute fortdauert.
Vermeer van Delft gehört zu jenen Malern der Kunstgeschichte, deren Sehweise Gegenstand vieler Studien wurde und die – so nimmt man an – den „fotografischen Blick“ an der „camera obscura“ entwickelt haben. 1964 und 1966 untersuchten Charles Seymour und Heinrich S. Schwarz die Frage, ob Vermeer eine Camera Obscura benutzte. Unter den vielen Argumenten dafür und dagegen deutete eines klar darauf hin: „Die kleinen Farbkügelchen, die wir in einer Reihe von Werken finden….sind gemalte Äquivalente jener diffusen Lichtkreise, die sich beim Bild der Camera Obscura um die unscharf eingestellten Spitzlichter herum bilden“.(Anmerkung 3)
Dass Kunsthistoriker in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts den „fotografischen Blick“ und seine Hilfsmittel in der Vergangenheit studierten, erscheint bedeutend für eine Epoche, in der die fotorealistischen Maler ihre Strategien vorbereiteten. Denn es zeichnete diese Maler nicht etwa aus, das sie Fotografien als Bildquellen für ihre Gemälde benutzten oder fotografische Geräte wie Kameras und Diaprojektoren einsetzten, sondern dass sie jenen „sterilisierten“, mathematisch klaren, fotografischen Blick zum Gegenstand ihrer Gemälde machten.
In seiner Untersuchung zur Optik „Dioptrice“ von 1611 schildert Johannes Kepler, wie die konkave Netzhaut des menschlichen Auges mit den farbigen Strahlen sichtbarer Dinge wie mit „pencilli“, feinen Pinseln, „bemalt“ wird. Swetlana Alpers benutzt in ihrem Buch über die holländische Malerei des 17. Jahrhunderts dieses Zitat, um eine Theorie der Malerei „des Nordens“ zu begründen und auf die sorgfältige Feinmalerei der niederländischen Maler jener Zeit hinzuweisen. (Anmerkung 4) In einem Nebensatz weist sie auf die „Neorealisten“ ihrer Zeit hin.
In der Tat nehmen die Fotorealisten des 20. Jahrhunderts diese Tradition auf und fügen den „pencilli“ ein neues Instrument hinzu: den Farbzerstäuber, den Aerosol, die Airbrush, die die scheinbar immateriellen Strahlen sichtbarer Dinge unendlich feiner noch imitierend wiedergeben kann – man begreift diese Vorstellung leicht, wenn ein fotorealistisches Gemälde so ausgeleuchtet wird, als fiele eine Diaprojektion auf die leere Leinwand. Die Airbrush mit ihren feinen Düsen, die unter hohem Druck dünnflüssige Acrylfarbe freigeben, ist ein ideales Instrument, um eine äußerst glatte Oberfläche zu erzeugen, die der Glätte einer Fotografie auf Barytpapier oder sogar einer verglasten Fotografie nahe kommt. Wenn Richard Estes gläserne Hausfassaden wiedergibt, strebt er danach, dieses „glossy finish“ zu erzeugen, das leicht eine Augentäuschung hervorruft.
Wie die niederländischen Stilllebenmaler des 17. Jahrhunderts lieben Fotorealisten des 20. Jahrhunderts spiegelnde Flächen und harte, polierte Materialien: Glas, Aluminium, eloxierten Stahl – Schaufenster, Stoßstangen von Limousinen, Auspuffrohre von Motorrädern, metallene Wohnwagen. In ihrer Summe bilden ihre Motive die Ikonografie einer unirdisch sauberen, sterilisierten, hoch entwickelten Zivilisation, und sie deuten auf einen patriotischen Stolz, der die Autoren anleitet, Wohlstand, Reichtum, Sättigung Amerikas vorzuführen. Indem die Bilder Luxusgüter zeigen, werden sie selbst zu Luxusgütern.
Richard Estes, Don Eddy, John Baeder und Ben Schonzeit entwerfen Bildfragmente einer Stadt New York, die so nur dort existiert, wo das Auge des Touristen nach Schönheiten sucht. Ralph Goings verklärt den Wohnwagen auf dem Parkplatz einer Landstraße, die Hülle für ein autistisches Nomadenleben, so sehr, dass der Betrachter seines Bildes der Suggestion erliegt, vor einem Raumfahrzeug in der Atmosphärelosigkeit des Mondes zu stehen. Was leitet diesen „fotografischen Blick“, der mit der Kälte eines scheinbar wissenschaftlichen Auges auf nichts als „schöne“ Oberflächen stößt?
„Die schöne Oberfläche“, die wir beobachten, entsteht im Wettstreit mit den Oberflächen der Fotografien. Der Maler, der das Handwerk des Fotografen, des „Lichtbildners“, der „mit dem Licht zeichnet“, in sein eigenes Handwerk aufnimmt, ist sozusagen verdammt, eine Schönheit der Oberfläche zu erzeugen: sie bleibt umso mehr eine gemalte, poröse, atmende Farbhaut, je mehr er sie einer Fotografie anzugleichen sucht. Der Malhandwerker perfektioniert sein Werkstück zu einem Zeugnis seiner Meisterschaft.
(Im Gegensatz zu seinem intellektuellen Gegner, dem zeitgenössischen Konzeptkünstler, der das handwerkliche Produkt dem Manifest, dem Text, dem Konzept opfert.)
Da die Fotorealisten das gleiche Handwerkszeug benutzen, zielen sie auf eine Perfektion, die die Bilder des einen mit denen des anderen ähnlich macht. Folglich neigen sie dazu, sich auf Themenkomplexe zu konzentrieren, die sie voneinander unterscheiden: Estes malt Hausfassaden und Straßenschluchten, Cottingham Reklameschriften über Hauseingängen, Ben Schonzeit die Dekorationen von Schaufenstern, Salt Autofriedhöfe, Tom Blackwell Motorräder, Chuck Close besetzt exklusiv das Feld überlebensgroßer Porträts.
Mit Ausnahmen benutzen alle eigene Fotografien als Bildquellen. Das Interesse an ihren Motiven schließt wahrnehmungstechnische Fragen ein; die Spiegelungen, wechselnden Focussierungen und perspektivischen Dehnungen übersteigern die dokumentarischen Absichten ebenso wie der „Stillstand“, das „Stilleben“ in ihnen: keine Menschen hasten durch die Bilder, keine Schmutzflecken besudeln die Gegenstände, keine Wolken verfinstern die Himmel, nichts bewegt sich – die um einige Grade erhöhte Realität versetzt den Betrachter in heitere Ruhe. Leere bedeutet hier Schönheit. Der „wissenschaftliche“ Blick zeigt keine menschliche Teilnahme, in einem traditionellen humanistischen Sinn sind die Bilder leer wie die Gegenstände, die sie abbilden. Nur dort, wo der Blick sich auf Dinge richtet, die verfallen, auf Autofriedhöfe und Müllhalden, wo also Zeit als Geschichte in das Spiel eintritt, scheint eine nostalgische Anteilnahme auf. Dort kann auch Fülle entstehen.
So malte der Kalifornier Paul Sarkisian 1972 das 4 x 8 m große Bild „Untitled (Mapleton)“ , die Vorderfront einer verlassenen Holzhütte, die jedem, der sie in der Kasseler Documenta 1972 sah, so groß erschien, wie sie gemalt war: 1: 1, „Actual Size“. Diese 1:1-Überraschung rechnet mit einem Betrachter in mittlerer Entfernung, aber Sarkisian begnügte sich nicht damit, ihm im engen Ausschnitt die gesamte Front des Hauses mit dem zugehörigen Ziegeldach zu präsentieren, sondern fügte ein reiches Inventar von verwilderten Gebrauchsgegenständen hinzu, die er aus vielen Einzelfotos übertrug. Diese Überfüllung kann das unkonzentrierte Auge weder in der Realität noch in der Fotografie aufnehmen. Wenn der Betrachter die große schwarz-weiße Abbildung als gemaltes Bild erkennt, wird er seine Konzentration steigern, das Auge wird die Oberfläche abtasten und die Details nicht anders als das gesamte Bild lesen – als eine Addition von Stilleben, die mehr ist als ihre Summe. „Wenn ich anfange, ein Objekt zu malen, male ich so lange, wie ich die Malerei noch sehe. Wenn das Bild abgeschlossen ist und mit mir auf gleich und gleich steht, verschwindet der Malereiaspekt. Es ist kein Gemälde mehr, es ist Realität…. (Anmerkung 5 )
Sarkisian führt eine Strategie vor, die in der „fotografischen Malerei“ die Manipulationen, die in der digitalen Fotografie selbstverständlich werden, vorwegnimmt. Aber er ist nicht der einzige, den wahrnehmungstechnische Studien zu Fragestellungen führen, die uns heute aktuell erscheinen.
Chuck Close zeigte 1971 in der Düsseldorfer Ausstellung „Prospect 71 Projection“ das Porträt seines Freundes Bob und einen 10 Minuten langen Film: er hatte das große Bild in horizontalen Fahrten von oben links nach unten rechts aus einer Entfernung von etwa 10 cm aufgenommen. Aus großer Nähe in kleinen Räumen sollten auch seine Bildnisse betrachtet werden. Nicht die „Gestalt“ sollte der Auslöser einer kontinuierlichen differenzierenden Wahrnehmung sein, sondern ein beliebiges Detail sollte zu einer langsamen Dedifferenzierung führen. Die Dedifferenzierung bestimmte auch seine Übertragung der quadrierten Segmente der Fotovorlage. Er konnte jederzeit jedes Segment übertragen. Da er nur in der letzten Phase mit dem Pinsel malte und vorher ausschließlich die Airbrush verwendete, um Pigmentpartikel aufzustäuben, ist jedes Segment autonom; keine Bewegung, kein Strich führt von einem zum nächsten. Diese Segmente sind gegenstandslos und würden eine Betrachtung des Bildes als eine abstrakte Malfläche erlauben, wenn die Gestalt es nicht verhinderte. Wir haben uns angewöhnt, solche abstrakten Pixelquadrate dort zu sehen, wo in TV-Bildern Gesichter unkenntlich gemacht werden. Sie verweisen auf ein unsichtbares elektronisches Raster, das die Bilder auf den Schirmen zusammenfügt.
Ähnliche Versuche, ein Bild in selbstständige Partikel aufzulösen und aus ihnen zusammenzufügen, unternimmt in der gleichen Zeit nicht nur Gerhard Richter, sondern auch Malcolm Morley. Frances Morley hat seine Arbeitsweise 1972 so beschrieben:
„Morley trennt und schneidet das zu malende Bild in kleine Rechtecke. Jedes Rechteck ist um 180 ° gedreht, und die vergitterte Leinwand wird um 180 ° gedreht. So scheitert jede vorgefasste Idee einer umfassenden Sicht an der Unleserlichkeit der Ausgangssituation. Dafür erhalten die Quadrate Eigenschaften, die zum Anbringen der Farbe reizen. Morley kann eine kleine Fläche auf einen Blick erfassen und so nebeneinander liegende Zentren kreieren, die sich wie von selbst gleichrangig über die ganze Bildfläche verteilen.“(Anmerkung 6)
Den Hintergrund des Malprozesses, den Künstler wie Close oder Morley entwickelten, bildet eine Auseinandersetzung mit dem elektronischen, dem digitalen Medium. Wie verändern sich unsere Sehweisen, wenn die farbigen Strahlen, die unsere Netzhaut „bemalen“, nicht von Dingen erzeugt, sondern von digitalen Programmen generiert werden? Die Airbrush hatte dazu beigetragen, dass die festen Formen, die die Pinsel mit langsam trocknender Ölfarbe modelliert hatten, nun wie in Aquarellen zerflossen und, noch mehr, zerstäubten. Fortan haben wir es mit beweglichen, „flüssigen“ Bildoberflächen zu tun, die die Suggestion richtungsloser Beweglichkeit vermitteln. Wenn solche Bildoberflächen dem entsprechen, was unsere Netzhaut aufzeichnet, so entsteht eine neue Form der Augentäuschung, ein neues trompe l´oeil - ein jüngstes Zeugnis jenes Effektes, den Maler und Bildhauer seit der griechischen Antike genutzt haben.
Zu dieser Tradition scheinen wir zurückzukehren, wenn wir die wenigen dreidimensionalen Werke des Gruppenstils Fotorealismus betrachten. Als die Skulpturen von Duane Hanson zuerst in New York bekannt wurden, ordnete man sie diesem Gruppenstil zu, und der Volksmund stand vor ihnen und sagte: Wie eine Fotografie! Aber Hanson meint nicht die Fotografie, sondern den Gegenstand selbst – oder sein Spiegelbild.
Die Sehgewohnheiten vor dem Spiegel schließen die Regel ein, dass der Gegenstand, der sich spiegelt, genau so groß ist wie sein reflektiertes Bild. Die Begegnung mit einer lebensgroßen Figur enthält darum keine Überraschung. Befremden erregen dagegen die Verkleinerung (Robert Graham) oder die Vergrößerung (Ron Mueck). In der Übertragung vom Modell in die Skulptur kann die Fotografie als rückversicherndes Dokument eine Rolle spielen. Aber als Hanson die Clochards aus der Bowery modellierte, hatte er die Modelle nahe vor Augen und benutzte überdies ihre Kleidung und den Müll, der sie umgab, um seine Skulpturengruppe zu inszenieren. Die „Supermarket Lady“ hat er nicht mehr modelliert. Sie ist die erste seiner Plastiken, die als Abguss entstanden sind. Als er sie bemalte und mit ihren Accessoires ausstattete, war ihm bewusst, dass das Ziel seiner Arbeit eine schockierende Täuschung, ein Vexierspiel mit der Wirklichkeit sein würde. Er führte die Frau aus dem Großkaufhaus in Downtown Manhattan selber vor, und nur, weil es nicht möglich war, ihren lebenden Körper in den neutralen Ausstellungsraum zu stellen, ersetzte er sie durch ein Surrogat. Diese Frau selbst und nicht ihr Abbild, ausgewählt aus komplexen sozialkritischen Gründen, sollte öffentlich die denkwürdige Spannungslosigkeit und Stagnation einer Konsumgesellschaft repräsentieren. Dieser Anspruch ist immer empfunden worden, so lange die Figur im Kunstraum wahrgenommen wurde. Als sie einmal vor der Kasse der Lebensmittelabteilung eines Kaufhauses aufgestellt war, wurde sie nur von wenigen beachtet.
Frühjahr 2003
Anmerkungen:
(1) Zitiert nach: Magdalena M. Moeller: Konrad Klapheck, in: Positionen. Malerei aus der Bundesrepublik Deutschland. Ausstellungskatalog Sprengel-Museum, Hannover 1986 Seite 113
(2) Svetlana Alpers. The Art of Describing. Dutch Art in the 17th Century, Chicago 1983 – Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln 1985 Seite 85
(3) Alpers a.a.O. Seite 87)
(4) Alpers a.a.O. Seite 97/98
(5) zitiert nach: Peter Sager, Neue Formen des Realismus, Köln 1973
(6) zitiert nach: Documenta 5, Ausstellungskatalog, Kassel 1972 Abteilung 15, Seite 37
Stadt Aachen
Neue Galerie – Sammlung Ludwig
LES NOUVEAUX FAUVES – DIE NEUEN WILDEN
Sammlung Ludwig
19. Januar bis 21. März 1980
Lose-Blatt-Katalog in 2 Bänden mit eingelegten Farbkarten
Hg. Wolfgang Becker
Wolfgang Becker
LES NOUVEAUX FAUVES / DIE NEUEN WILDEN
Vorschlag zu einer Untersuchung
Dieser Katalog ist der einer Ausstellung, die sich anmaßt, nordamerikanische, französische und deutsche Künstler unter einem gemeinsamen Titel vorzustellen, der so aussieht wie eine Stilbezeichnung – und zugleich der des neuen Bestandes, Dokument einer Leidenschaft des Sammelns, dem mehrere andere vorausgegangen sind. Das Sammeln, seine Gesetze und seine Beschränkungen bestimmen also die Auswahl der Künstler und der Werke dieser Ausstellung, die zugleich das vorläufige Ziel eines periodischen Engagements des Sammlerehepaares Ludwig war.
Die Geschichte der Aufnahme von Kunstwerken durch die Gesellschaft hat insgesamt heute eine pragmatische, von Gesetzen der freien Markt- und Werbewirtschaft abhängige Seite. Sie tritt am deutlichsten dort hervor, wo Sammler die Rezeption neuer Kunstströmungen mit bestimmen.
Wenn wir hier drei geografisch bestimmte Künstlergruppen zueinander ordnen, so zeigen wir eine Gleichzeitigkeit ihrer Rezeption in unserer Sammlung, als wäre sie stellvertretend für die Gleichzeitigkeit ihrer Entdeckung in der Kunstöffentlichkeit. Die deutschen Künstler Baselitz, Immendorff, Lüpertz und Penck sind aber in der Bundesrepublik, der Schweiz und den Niederlanden seit etwa 10 Jahren bekannt, der „Altmeister“ Hantai, Claude Viallat und Louis Cane werden in der französischen Kunstkritik seit 1967 diskutiert, und Neil Jenney, Miriam Schapiro und Robert Zakanitch sind ebenso „gestandene“ Künstler mit bewegungsvollen Lebensläufen.
Die Gleichzeitigkeit, die unsere Ausstellung suggeriert, ist also nicht notwendigerweise die einer Generation, nicht die einer in sich kommunizierenden Künstlergruppe, sondern reflektiert Bedürfnisse der Kunstöffentlichkeit, die von der Kunstkritik und den Ausstellungsdiensten schwerpunktartig artikuliert werden. Wenn die meisten Künstler unserer Ausstellung heute im Mittelpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit stehen, dann scheinen sie bestimmten Bedürfnissen Rechenschaft zu geben, die wir zu befragen haben. Hier sind einige, roh umrissen: Farbigkeit – Hitze – gestalteter Ausdruck – Spontaneität – Lockerheit – Unruhe – Emotion – Erlebnis – Geschichte – Orient – Gesamtkunstwerk – Synthese – Kommunikation – Praxis.
Wir können uns also vorstellen, dass die Künstler, die jetzt durch große Ausstellungen in das Licht der großen Öffentlichkeit treten, sich gegen jene wenden, die diesen Bedürfnissen nicht entsprochen haben. Die also farblos, kalt, ausdruckslos, kalkulierend, besessen, ruhig, emotionslos, geschichtslos, akademisch, analytisch, kommunikationsarm und praxisfremd waren. Vielleicht trägt das so definierte Feindbild dazu bei, unsere neuen Helden zu bestimmen.
Die Berliner Lüpertz und Baselitz und der ihnen nahestehende Dresdener Ralph Winkler – A. R. Penck setzen sich in der ersten Hälfte der sechziger Jahre gegen die zeitgenössische nordamerikanische Kunst – die pop art – ab, die die öffentliche europäische Kunstszene beherrschte. Diese Absetzung führte sie in ihre eigenen Schulen zurück – über nordeuropäische Ausprägungen des informel wie COBRA bis zum deutschen Frühexpressionismus. Gegen die großstädtisch zynische Abwertung der Bildinhalte und –sprachen der pop art führten sie ein kraftmeierisches, dunkles Pathos ein, versuchten „Anti-Bilder“ „ohne Stil“ (Baselitz) herzustellen und entwickelten langsam ihre streng individualistischen Handschriften. Baselitz erhält sich in seinen späten Werken, die wir hier zeigen, dadurch, dass er weiterhin vertraute Gegenstände auf dem Kopf malt, die scheinbare Gleichgültigkeit gegenüber dem Motiv, steigert aber den Ausdruck des Malauftrages so in die Lockerheit einer groben Skizze hinein, dass die Motive nur noch als Bildanlässe sichtbar sind.
Im Gegensatz zu ihm hat Lüpertz zum „Stil“ gefunden, der seinen Anspruch an die gesellschaftliche Rolle des Künstlers ebenso bestimmt wie den an das Bild. Seit 1963 arbeitet er mit dem Begriff „Dithyrambe“ und trägt seine Bilder „begeistert, schwungvoll“ als „Loblieder“, „feierliche Gedichte“ vor. Die Wendung zu Inhalten von großer Erhabenheit („Der Tod“, „Der Frühling“) und zu einer monumentalen Bildsprache in Pathosformeln zeigt den Grad der Absetzung von allem, was wir in den sechziger Jahren als „modern“ in der Kunst empfunden haben: die Öffnung zu den Massenmedien und ihren Techniken, die gesellschaftsnahe Aktivität des Künstlers, die analytische Ironie. Vollends führen uns die Arbeiten von Anselm Kiefer aus der Gegenwart in die Beschäftigung mit geschichtlichen Inhalten, die einem spezifisch deutschen Bewusstsein angehören – vorgetragen in einer Sprache, die roh und unfertig sein und sich damit der raschen Konsumption entziehen will.
Ich habe den Titel „Les Nouveaux Fauves – Die Neuen Wilden“ in der Ausstellung „Paris – Berlin“ im Pariser Centre Pompidou gefunden, weil ich dort die Frage ungenügend beantwortet fand, was den „Fauves“ und den deutschen Expressionisten um 1910 gemeinsam war und was sie trennte, und weil ich für diskussionswürdig halte zu untersuchen, ob Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten heute wieder auftreten – wenn wir davon ausgehen, dass hier wie dort Rückbezüge zum Fauvismus – Expressionismus sichtbar sind. Beispielsweise: tritt der „Taumel“ ( „Le Vertige“), die Neigung zur exstatischen Überhöhung, zur Metaphysik, die Nähe von Bildkunst, Literatur und Philosophie, die die Franzosen an den deutschen Expressionisten faszinierte und abschreckte, heute bei Baselitz, Penck, Lüpertz und Kiefer wieder auf? Oder: beobachten wir in der französischen Kunst heute den gleichen Grad von malerischer Disziplin, Rationalität des Geschmacks, des Strebens nach Ausgleich und Harmonie – und der gesellschaftlichen Unverbindlichkeit, die wir bei Matisse und seinem Kreis gesehen haben? Und was schließlich fügen jene Amerikaner hinzu, die – in deutlichem Bezug zu Matisse – mit großen Tüchern in prunkenden Farben die Ornamentgeschichte dieser Welt aufzuarbeiten scheinen?
Diese Ausstellung ist nicht Ergebnis einer Untersuchung, sondern soll ihr Anlass sein. Darum stellen wir die Fragen nur, beantworten sie heute aber nicht.
Es gibt scheinbar nichts, das einen Vergleich zwischen den deutschen und den französischen Künstlern diese Ausstellung gestattete – es sei denn jene zum Pathos neigende Expressivität, die sich bei Cane ebenso wie bei Viallat in den letzten Jahren entwickelt hat. Die Künstlergruppe „support – surface“ ( Bildträger – Bildfläche) hat seit der Mitte der sechziger Jahre auf der Basis gründlicher theoretischer Auseinandersetzungen mit Matisse und den Amerikanern Ad Reinhardt, Barnett Newman, Morris Louis und Frank Stella und auf der Basis eines kulturpolitischen Diskurses Bilder in Gegenstände verwandelt oder: Bildträger und Bildfläche eins werden lassen. Dabei hat ihr der ältere Hantai als Anreger gedient. Als diese mit erdnahen Stoffen eingefärbten, zusammengenähten, tamponierten, lose herabhängenden Tücher bekannt wurden, erschienen sie wie Varianten einer zeitgenössischen abstrakten Malerei, die ebenso in Europa wie in Amerika existierte. Nur Viallat hat den Objektgedanken fortentwickelt, indem er Troddeln und Fransen an vorgefundenen Stoffbahnen belässt oder ihnen Gewandformen gibt. So tritt langsam die Serialität des gleichförmigen Tamponierens als Kompositionsprinzip in den Hintergrund. Viallat liebt die Assoziationsnähe zur Völkerkunde und zur außereuropäischen Ornamentik, die wir in den amerikanischen Werken wiederfinden. Doch er versagt sich das direkte Zitat und hält damit unverwechselbar am stärksten die Nähe zu den geschnittenen Papieren von Matisse.
Die Gruppe „support – surface“ ist ebenso 1968 durch die politische Generationskrise geschritten wie ihre deutschen Kollegen. Folgte sie einer französischen Tradition, kulturpolitische Forderungen immer ästhetisch zu instrumentalisieren? Unterscheidet sie das von den deutschen Künstlern ihrer Generation?
Die französische „support – surface“ – Gruppe hat uns zum ersten Mal jene Gattung ungespannter, frei hängender Bildtücher vorgeführt (nehmen wir die Seidentücher der „Hoarfrost“-Serie aus, die Robert Rauschenberg 1974 gemacht hat). Ein Tuch an einer Wand ist etwas anders als ein Bild; ihm fehlt der Rahmen, die Abgrenzung; es ist nicht Fenster, sondern Vorhang. Es steht nicht fest, sondern bewegt sich, es scheint Teil einer Aufführung zu sein. Die Tücher von Kim MacConnel und Robert Kushner sind nach ihrer Herkunft Versatzstücke zu performances. Kushner wurde zuerst durch seine witzigen, satirischen Modeschauen bekannt, in denen er allein oder mit Partnerinnen aus einem lockeren Reservoir von Tuchfetzen verschiedenster Herkunft phantastische Kostüme improvisierte. Und Man muss wissen, dass das Stück „Pagode“ von MacConnel in unserer Ausstellung Requsit der performance „Mr. BURT his MEMORY of Mr. WHITE his FANTASY of Mr. DUNSTABLE his MUSICK / PAGODE” war und zwei Musikern mit zwei Spielzeugklavieren und –orgeln Schutz bot. Die jetzt reproduzierte Musik ist Teil des Stücks.
Dieser Vorgang, dass Requisiten sich verselbstständigen, ist aus der happening- und fluxus-Bewegung um 1960 bekannt, und eine spezifische New Yorker Tradition erlaubt es, bei Kushner an die Schaufensterdekorationen und Modeschauen von Oldenburg zu erinnern. In dieser Tradition bleibt auch die der pop art eigene Liebe zu trivialen, abgenutzten, ausgeleierten, millionenfach reproduzieren Bildmotiven erhalten, die sich am reinsten in der Tapeten- und Dekorationsstoffe- Industrie erhalten hat (es versteht sich, dass jetzt, unter diesem neuen Blickwinkel, Werke von pop-Künstlern aus Amerika und Europa ausgegraben werden, die auf Tapeten basieren; wichtiger ist aber, dass Künstler wie MacConnel sich auf kubistische Collagen und Gemälde von Picasso und Braque beziehen, die selbstverständlich Tapeten wie Zeitungen benutzt haben).
Wendete sich die pop art gegen die erstarrenden Pathosformeln des abstrakten Expressionismus, so können wir uns erlauben, diese neue, in New York von Galerien und Kritikern zusammengefasste Gruppierung in einer Reaktion auf die bildnerische Askese und Kopflastigkeit der minimal und conceptual art zu sehen, weil die Reaktion im Oeuvre einiger der Protagonisten als Bruch sichtbar wird.
Die hohe Sensibilität, die in einem kompakten Kunstzentrum wie der Insel Manhattan alle kompetitiven Leistungen bestimmt, macht sogar die Väter zu Komplizen. Überdeutlich tragen Künstler wie Lichtenstein und Stella in diesen Jahren ihr Interesse an der Serialität und expressiven Bildhaftigkeit historischer Ornamente vor.
Wir können in den Vereinigten Staaten ein ungleich höheres Bewusstsein als bei uns für die Geschichte des amerikanischen Kunsthandwerks und die der Kunst der Indianer voraussetzen. Das nationale Selbstverständnis gibt Gegenständen dieser Geschichte ein Gewicht, das wir nicht kennen. Diese ethnologische Neigung begleitet die amerikanische Kunst und tritt heute stark hervor. Sie ist aber nicht virulent nationalistisch, sondern schließt eher den globalen Anspruch ein, an der Weltkunst teilzuhaben.
Wer nach Möglichkeiten sucht, die Bilder, die in dieser Welt hergestellt werden, zu ordnen, stößt am Ende auf Gesetze, die von der Ornamentik bestimmt werden, und entdeckt, dass die Gesetze der Ornamentik sich ableiten als alten handwerklichen Techniken. Seine anti-modernistischen, anti-technologischen Affekte führen ihn zu einer handgreiflichen Romantik, die in unserer Ausstellung am deutlichsten dort durchschlägt, wo sie sich mit einer feministischen Haltung verbindet. Joyce Kozloff, Miriam Schapiro und Valerie Jaudon haben als Vertreterinnen eines aggressiven Feminismus – in Verabredung – Bildformen entwickelt, in denen provozierend monomanisch, übermütig, ironisch naiv Gebrauchsgegenstände mit schmückender Funktion zitiert werden.
Was bedeutet diese Auseinandersetzung mit der Ornamentik des Vorderen und Hinnteren Orients, die MacConnel, Smyth, Schapiro, Jaudon und Kozloff auszeichnet? Die marktgängigen Stilbezeichnungen täuschen: „pattern painting“ und „decoration art“ wollen aus dem verständlichen Wunsch, sich selbst als Ornament anzupreisen, verleugnen, dass wir es noch einmal mit gebrauchsferner, Gebräuche zitierender Kunst zu tun haben,
Die Nähe zum Gebrauchsgegenstand, zur Wanddekoration, zum Behang, zur Tapete, zum gekachelten Interieur zeigt aber hier den entschlossenen Wunsch, von der akademischen Praxis des Tafelbildes abzurücken, die Malerei, die sich selber analysiert, zu desavouieren, Farbflächen in den Raum zu öffnen, das kompositorische Prinzip der Reihung gestuell oder durch Farbmodulationen zu beleben und eine gestalterische Spontaneität – globale Kunstgeschichtsbildung vorausgesetzt – vorzutragen. Die Mittelstellung der amerikanischen Kunstschulen zwischen Europa und Ostasien macht die unnachahmliche Mischung bildnerischer Erbschaften verständlich – wies ebenso verständlich erscheint, dass sich deutsche Künstler wie Baselitz z.B. mit russischen Künstlern der Vergangenheit (Wrubel) beschäftigen.
Der sinnliche Ansturm der Tücher ist gewaltig. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass diese erhebende Manifestation der Lebensfreude mit Ironie gesättigt ist, flatternd, verwehend, durchaus nicht festgemacht.
Es bedarf keiner Werwähnung, dass die Werke von Miriam Schapiro, Joyce Kozloff, Kom MacConnel und Robert Kushner mit denen von Markus Lüpertz und Georg Baselitz, Anselm Kiefer und Jörg Immendorff nichts gemein haben – es sei denn jenes ausdrückliche Pathos, jene Sehnsucht nach der Expression von Größe, Exuberanz und triumphaler Erscheinung. Unter diesem gemeinsamen Nenner haben wir die Werke in unserer Ausstellung zueinander zu ordnen versucht. Die Fragen, die dieser Zueinanderordnung aufwirft, werden uns ein Jahr lang beschäftigen.
Zu der Ausstellung „Die Erfindung der Neuen Wilden“ im Ludwig Forum für internationale Kunst in Aachen 2018
1. DIE WILDEN
Sie erscheinen in dem Titel der Ausstellung „Les Nouveaux Fauves – Die Neuen Wilden“ 1980 in der Neuen Galerie – Sammlung Ludwig. Ich bin ihr Erfinder. Die Bezeichnung FAUVES erhielten Henri Matisse und seine Freunde 1906, als ein Kritiker im Pariser Herbstsalon eine konventionelle Frauenbüste lobte: „Voilà Donatello au milieu des fauves“ - und er meinte große wilde Katzen, die gestreiften Felle von Tigern. Georges Duthuit hat der Gruppe lange, nachdem sie sich durchgesetzt hatte, ein großes Buch gewidmet „Les Fauves“ 1949 französisch, englisch und schwedisch. Es versammelte Artikel, die er 1929-31 in den Cahiers d’Art veröffentlicht hatte.
„Die Wilden“ ist eine falsche Übersetzung, „Die Wilden“ würden französisch „Les Sauvages“ heißen. Ein TV-Dokumentarfilm hieß kürzlich „Die Wilden in den Menschenzoos“ und berichtete, wie Barnum, Hagenbeck und andere Unternehmer „Heiden“, „Untermenschen“, „Wilde“ importierten und zur Schau stellten. Mit dieser tiefschwarzen Seite des Kolonialismus hatten der Ethnologe Claude Lévi-Strauss und sein Buch „La Pensée Sauvage – Das wilde Denken“ gründlich aufgeräumt. Es war 1962 erschienen (1973 deutsch) und stellte dem wissenschaftlichen Denken der Moderne das mythische Denken zeitgenössischer Kulturen dieser Welt, der streng umrissenen Kunst die bricolage, die Bastelei gegenüber, die sich der second hand, einer 2. Qualität bedient, um Werke mythischer Strukturen zu schaffen. In diesen Texten fand ich mich bestätigt, wenn ich Werke der „Neuen Wilden“ betrachtete.
Der unansehnliche billige Katalog der Ausstellung, in einer Auflage von 300, trug nicht dazu bei, den Titel zu verbreiten. Im Haus am Waldsee hieß die Ausstellung der Berliner der Galerie am Moritzplatz 1980 „Heftige Malerei“, die Italiener um Bonito Oliva hiessen „Transavanguardia – Arte Cifra“, Engländer und Amerikaner sprachen von „New Image Painting“, die Franzosen von „Figuration Libre“. Die Ausstellung „Rundschau Deutschland“ 1981 in München und Köln zeigte die Protagonisten der einzelnen Zentren, die großen Ausstellungen in London 1981 ("A new spirit in painting"), Berlin 1982 („Zeitgeist“) und Kassel 1982 (dokumenta 7) erzeugten einen Hype, der die Künstler und ihre Händler und Sammler begeisterte.
„Die (Aachener)Wortprägung wurde kritisch aufgenommen, vor allem auch bei den Künstlern selbst, die auf ihre gänzlich subjektive Bildsprache und das fehlende übergeordnete Programm aufmerksam machten und zudem eine Gleichsetzung ihrer Arbeit mit einer Kunstströmung der Vergangenheit ablehnten. Doch trotz aller Skepsis etablierte sich die Bezeichnung." (Stefanie Gommel)
In der Tat ist es nicht leicht, unter dem Titel Individuen und Gruppen von Künstlern zu vereinen, ohne zu der Vorstellung der Wildheit zurückzukehren, die jener Kritiker 1905 in der Ausstellung der Fauves empfand: Revolten gegen die etablierte Kunst und ihren Markt, gegen die entsinnlichte, vergeistigte minimal und concept art, für die Rechte der Frauen und der Homosexuellen, gegen den Kalten Krieg und die Teilung Deutschlands, für eine weltoffene Ornamentik, für erotische Begegnungen, für eine aktionistische, performative Malerei auf großen Tüchern, für Dilettantismus und Hässlichkeit, für eine emotional geladene „mythische“ Malerei – kurzum: für einen nächsten Paradigmenwechsel nach dem ersten um 1968.
Abb. George Braque „L´Estaque“ 1908
Zur Ausstellung „Die Erfindung der Neuen Wilden“ im Ludwig Forum in Aachen 2018
Die Obsession des Sammlers
1980 eröffnete die Neue Galerie die Ausstellung „Les Nouveaux Fauves – Die Neuen Wilden – Sammlung Ludwig“ und dokumentierte sie in einem Katalog, der das Budget des Hauses spiegelte: etwa 200 lose DIN A 4 – Blätter rotaprint bedruckt mit Schreibmaschinen-Texten und Schwarz-Weiß-Abbildungen, 3 Farbabbildungen auf Kartons, alle geordnet in zwei beschrifteten Hüllen – Auflage 300. Die Ausstellung zeigte 74 Gemälde, Skulpturen von 19 Künstlern, von Baselitz 91, von Lüpertz 43 und von Penck 106 Zeichnungen. Sie dokumentierte eine Fülle von Erwerbungen, die den internationalen Kunstmarkt bewegte.
Mein Vorwort hatte den Titel „Vorschlag zu einer Untersuchung“. Sie sollte weitergehen. Der großen Übersicht folgten eine Einzelausstellung von Claude Viallat und eine Gruppenausstellung seiner südfranzösischen Freunde, im Oktober „Aspekte amerikanischer Kunst der Gegenwart. Neuerwerbungen der Sammlung Ludwig“, die von Aachen nach Aalborg in Dänemark, Hövikodden in Norwegen, Stockholm, Mainz und Oberhausen wanderte – mit den Werken von Basquiat, Borofsky, Schnabel und den ersten Stücken der Graffiti-Sammlung.
Die Sammlungspräsentationen wechselten mit selbstständigen oder übernommenen Ausstellungen: 1981 die Gruppe Normal, 1982 die Berliner mit „Im Westen nichts Neues – wir malen weiter“ (Ludwig erwarb ihre Werke); 1983 zeigte der Aachener Sammler Hugo seine neuesten Erwerbungen italienischer Künstler der arte cifra-Gruppe, ihr folgten eine Einzelausstellung des Österreichers Attersee, eine kleine Präsentation des Aachener Fotografen und Sammlers Wilhelm Schürmann mit Martin Kippenberger „Song of Joy“, 1984
eine Einzelausstellung des Südfranzosen Alain Clément und 1987 eine andere des Berliners Helmut Middendorf.
Seit 1983 wanderten die „Nouveaux Fauves“ der Sammlung Ludwig:
„Der Stil des Ornaments. Dekorative Kunst aus der Sammlung Ludwig, Aachen“in den Hofer Herbst und in das Museum De Zonnehof in Amersfort und seit 1984 eine Auswahl der deutschen „New Expressionists“in das Hara Museum in Tokyo und, vermittelt von den Goethe-Instituten, in die Museen von Lyon, Toulouse, Marseille und Nantes, nach Amersfort und in das Provinzialmuseum in Hasselt. Ich habe die 44 Gemälde und 1 Skulptur zu allen Orten begleitet – wie zuvor andere Gruppen zu den Orten zwischen London und Teheran, deren Bewohner die Fotorealistischen Werke der Sammlung Ludwig bewunderten.
Der Erwerb der Sammlung der „Neuen Wilden“ folgte dem 1. Block der 17 Gemälde, 3 Skulpturen und 62 Grafiken aus der DDR, die die Neue Galerie 1979 gezeigt hatte, und 1984 organisierten wir die Ausstellung „Aspekte der sowjetischen Kunst heute“: 97 Gemälde, 16 Skulpturen und 45 Grafiken. Sie wanderte nach Wien, Regensburg, Lübeck, Hövikodden, Tilburg, Saarbrücken und Mainz.
Es ist heute nicht leicht sich vorzustellen, wie die Obsession eines Mannes die europäische Kulturlandschaft, ihre Museen und ihre Medien bewegte und welche Mittel ihm selbst dazu bereitstanden.
Der Sammler Peter Ludwig lebte und arbeitete als stadtbekannter Unternehmer und Sammler in Aachen, nahm als Bürgerbeauftragter an Kulturausschuss-Sitzungen des Stadtrates teil, hatte das Alte Kurhaus für eine Präsentation seiner Sammeltätigkeit vorgeschlagen und mich als Leiter eines neuartigen Museums aus Köln geholt. Es sollte eine ständige documenta bieten. Diese Verbindung erklärt die enge Verflechtung der Ausstellungspolitik des Hauses mit dem ständigen Zufluss von Neuerwerbungen. Sie erklärt auch die Gründungsgeschichten der Ludwig-Museen in Koblenz, Saarlouis, Oberhausen, Wien, Budapest, St. Petersburg und Peking, die aus Beständen der Neuen Galerie ausgestattet wurden. Insgesamt erwarb Ludwig in diesen wenigen Jahren 248 Gemälde,
29 Skulpturen und 694 Grafiken.
Abb. Basquiar „Ishtar“ 1983
Zu der Ausstellung „Die Erfindung der Neuen Wilden“ im Ludwig Forum für internationale Kunst in Aachen 2018
Ralf Winkler, alias A. R. Penck alias Mike Hammer ist unter den „Neuen Wilden“ der Ausstellung in der Neuen Galerie – Sammlung Ludwig in Aachen sich der Wildeste, wenn Wild bedeutet, gegen eine bedrückende Gesellschaftsordnung und ihre ästhetischen Paradigmen zu rebellieren. Seit seiner Jugend in Dresden hat der Verband der bildenden Künstler der DDR ihm den Zugang zu den Hochschulen und die Mitgliedschaft verweigert, so dass er sich im Untergrund entwickeln musste – als Maler, Bildhauer, Jazz-Musiker, Schriftsteller. Als er im Westen bekannt wurde, sammelten wir seine Schallplatten, und die Kölner Galerie Werner verkaufte seine großen Bilder, die in falschen Auspuffrohren gerollt über die Grenze kamen. Als wir die offizielle Kunst der DDR der Sammlung Ludwig ausstellten, schrieb er dem 1. Vorsitzenden Willi Sitte einen geharnischten Brief, in dem es heißt: „Willst Du, dass ich den Weg von Biermann, Faust, Kunze, Pannach, Fuchs oder anderen gehe?“ 1980 wurde ausgebürgert, und wir begegneten uns in Köln. 1985 feierten wir ihn in der Neuen Galerie mit der Verleihung des Kunstpreises Aachen und stellten die 66 „Standart-Modelle“ von 1973/74, kleine Skulpturen aus Karton, Holz und verschiedenen Materialien im Ballsaal vor einem seiner größten Leinwandbilder aus. Zur Feier gab er mit Markus Lüpertz und Frank Wollny ein kleines Mitternachtskonzert.
In der Ausstellung der Neuen Wilden konnten wir 106 Zeichnungen von 1966 bis 1977 und 5 Bilder zeigen, darunter „Hinter Leo Berrybora dahinter“ von 1975, ein Keulenschlag gegen die Offiziellen der DDR, ein großer „Schattenriss“, Darstellung eine Zeremonie, in der ein Niederkniender von einer Frau gesegnet wird und ein anderer sich vermummt in ein Gespenst verwandelt – ein anonymes Graffito? Eine vorzeitliche Wandmalerei? Mit solchen Assoziationen, die über die europäische Kultur hinausweisen, scheint es mir der Kategorie des Wilden am besten zu entsprechen.
„Die Erfindung der Neuen Wilden“ im Ludwig Forum für internationale Kunst in Aachen.
P.S. Die P.R. Industrie schafft Marken wie 4711, ODOL oder UHU zuerst und dann die Artikel, die Kunstgeschichtsschreibung bezeichnet Stilgruppen fast immer im Nachhinein.
Zu der Ausstellung „Die Erfindung der Neuen Wilden“ im Ludwig Forum für internationale Kunst in Aachen 2018
Das „Café Deutschland“
In der Ausstellung „Les Nouveaux Fauves – Die Neuen Wilden“ in der Neuen Galerie – Sammlung Ludwig 1980 zog das große „Café Deutschland“ Jörg Immendorffs zahlreiche Besucher an. Ludwig hatte es kurz nach seiner Entstehung 1978 erworben, jetzt kam es aus einer Einzelausstellung des Baseler Kunstmuseums nach Aachen (jetzt im Kölner Museum Ludwig). Einige hier kannten Immendorff, seit er 1967 in der Galerie Aachen seine Aktion VIETNAM mit Bildern aus der „Baby-Sphäre“ vorgeführt hatte. „Café Deutschland“ erzählt: von Penck, dem Freund hinter dem Brandenburger Tor, dem Immendorff seine Hand durch ein Backsteinmodell der Mauer entgegenstreckt (der Ungar Gabor Altorjay hatte solche Mauerstücke, durchsetzt mit Ferngläsern, in den 60er Jahren in Köln ausgestellt, eins stand in meiner Wohnung), von Immendorffs Frau, die Schmidt und Honnecker, die an der deutschen Fahne malen, Handwerkszeug bringt, vom tanzenden Künstler unter dem Adler, der in den Krallen ein Hakenkreuz hält, von Bertold Brecht, der in die nächtliche Szene hinabschaut, von Szenen der Unterdrückung auf geschnitzten Pfeilern – eine neuzeitliche „Nachtwache“ und politisches Manifest, begleitet von einem „Aufruf an die Westdeutschen und europäischen Künstler: Behandelt in euren Werken Fragen des Alltages, Ungerechtigkeiten, die Frage drohender Kriegsgefahr durch zwei imperialistische Mächte, politische Unterdrückung – setzt euch für Frieden ein, denn fällt die erste Bombe, bleibt keine Staffelei trocken, euer Jörg Immendorff, Mai 1978.“
Renato Guttuso, dessen „Mai 68“ lange in der Neuen Galerie hing, hatte mit dem Bild „Café Greco“ Immendorff 1977 angestoßen, aber als er die Serie begann, hatte er die Anregung vergessen. Unter allen Bildern der Ausstellung drängte sich dieses große, nächtlich leuchtende Gemälde am stärksten in das politische Selbstbewusstsein der Epoche – ein exemplarischer Nouveau Fauve.
Zu der Ausstellung „Die Erfindung der Neuen Wilden“ im Ludwig Forum für internationale Kunst in Aachen 2018
„Die Neuen Wilden“ 1980
In der Ausstellung „Les Nouveaux Fauves – Die Neuen Wilden“ in der Neuen Galerie – Sammlung Ludwig hing schon neben „Alarichs Grab“ von 1975 und „Große Eisenfaust Deutschland“ das Bild „Wege der Weltweisheit II“ von 1977 – eine „wilde“, ungeordnete Tafel von deutschen Köpfen – Kant, von Schlieffen, Hölderlin, Flex, Kleist, Heidegger, Moltke, Schlageter und viele mehr – in Holzschnitten aneinandergesetzt, zum Teil roh übermalt und mit Farbschlieren verbunden, die das Bild wie Arterien durchlaufen. Anselm Kiefer arbeitete mit irritierenden Pathosformeln an der zeitgenössischen Vergangenheitsbewältigung. Er blieb auch später der Ausdrucksstärke von Materialcollagen verbunden, fügte Stroh und Blei ein, schuf dreidimensionale Objekte und Environments.
Neben den frühen Bildern würde ich gern „Painting without Mercy“ (Malen ohne Gnade) von 1981 des New Yorker Neoexpressionisten Julian Schnabel sehen, eine der großen, schweren Bildtafeln, die mit zerbrochenen Tellern beklebt waren. Für die „beat generation“ setzte er das große Porträt des William S. Burroughs und das kleine des George Washington am Rand neben ein Pin-Up und eine Kreuzigung. Gnadenlos zu malen heißt hier die Schönheit einer Malfläche zu zerstören und das Bild in eine Assemblage zu erweitern. Ludwig erwarb später das monumentale Bild, das Schnabel in Spanien dem Ignatius von Loyola widmete. In der Ausstellung 2018 ist Schnabel als Amerikaner nicht vertreten, aber sie zeigt die 3 x 6 m große Tafel des Tschechen Jiri Georg Dokoupil von 1981, ein Relief aus festgeklebten geschlossenen Büchern, gewichtig und mächtig, sein materielles Pathos durch Gesichter ergänzt, die der Maler in den reichen Brauntönen durch weiße und schwarze Lichter als auftauchende Erscheinungen skizziert hat: „Gott, zeige mir Deine Eier“ heißt provokant das Abstand fordernde Bild.
Der großen Geste der abstrakten Expressionisten (Barnett Newman, Jackson Pollock) setzt diese Generation die Pathosformeln mythischer Sprache entgegen und füttert sie zuweilen mit einem Oberton, der die Ironie streift.
Abb. Kiefer „Wege der Weltweisheit“ 1977 – Schnabel „ Painting without Mercy“ 1981 – Dokoupil „Gott, zeige mir Deine Eier“ 1981
Zu der Ausstellung „Die Erfindung der Neuen Wilden“ im Ludwig Forum für internationale Kunst in Aachen 2018
Thomas Lanigan-Schmidt, der Revolutionär
Die „Neuen Wilden“, die ich 1980 in der Neuen Galerie ausstellte, die nicht den akademischen Regeln folgten, die nicht gemäß bürgerlichen Ordnungen lebten, die nicht an das glaubten, was die meisten glaubten, waren Revolutionäre verschiedener Art. Thomas Lanigan-Schmidt ist bis heute in New York berühmt als Teilnehmer der Stonewall Rebellion im Juni 1969, einer Serie von spontanen, aggressiven Demonstrationen der gay community in Greenwich Vilage. Mit ihr begann die weltweite Emanzipation der LGBT.
Die „Iconostasis“, die ich 1978 in der Holly Solomon Galerie staunend betrachtete und in die Aachener Ausstellung holte, besteht aus Cellophan, Staniol, Einpackpapier auf Holzrahmen, mit Acryl bemalt. Sie war ein Faustschlag in die Konventionen einer Galerie moderner Kunst, eine Provokation aller akademischen Maler, und noch 2012 nannte PS 1 seine Retrospektive „Tender Love among the Junk“ (Zärtliche Liebe im Müll). Der Anti-Künstler war ein Eigenbrötler wie der Vorgänger, den er verehrte: James Hampton, ein Sonderling in Washington, dessen „ Throne of the Third Heaven of the Nations’ Millennium General Assembly“, ein religiöser „Thronsaal“ aus Abfall nach seinem Tod in einer Garage aufgefunden wurde, viel von sich reden machte und heute im Smithsonian Museum steht – wie die „Iconostasis“ im Ludwig Forum in Aachen. Beiden waren ihre Ateliers Sakristeien des christlichen Glaubens; sie unterliefen die Standards der zeitgenössischen „heidnischen“ Kunst, ihrer Kritik und ihres Handels. Sie schufen eine neue „biblia pauperum“ – und die Künstler, Kritiker und Sammler begannen sie zu lieben. Der Maler Robert Kushner lobte später seinen kühnen, degenscharfen Witz, seine Subversivität und opulente Schönheit. Unter den Argumenten, die den Künstlern der 60er Jahre dienten, um zu revoltieren, neue Paradigmen der Kunst und des menschlichen Zusammenlebens zu fordern, ist das des Heiligen Franziskus sicher das ungewöhnlichste.
Jetzt zeigt das Ludwig Forum die Ausstellung „Die Erfindung der Neuen Wilden“ und ergänzt die Ausstellung „Pattern Painting“. Beide zusammen und die Franzosen von support surface bildeten 1980 die Ausstellung „Les Nouveaux Fauves – Die Neuen Wilden“.
Abb. Tomas Lanigan-Schmidt „Iconostasis“
Zur Ausstellung „Die Erfindung der Neuen Wildsen“ im Ludwig Forum für internationale Kunst in Aachen 2018
Pattern Painting
Brad Davis, Tina Girouard, Valerie Jaudon, Joyce Kozloff, Robert Kushner, Thomas Lanigan-Schmidt, Kim McConnel, Miriam Schapiro, Kendall Shaw, Ned Smyth, Robert Zakanitch und Joe Zucker waren in der Ausstellung „Les Nouveaux Fauves - Die Neuen Wilden“ der Neuen-Galerie – Sammlung Ludwig 1980 die Vertreter des Pattern Painting, und Robert Kushner bot zur Eröffnung eine feine belly-dance-Performance zu marokkanischer Musik in orientalischen Schleiern. Ihre Werke der Sammlung Ludwig bilden auch heute, 2018, den Kern der Ausstellung des Ludwig Forums „Pattern and Decoration“. Die aktuelle Ausstellung des MAMCO in Genf trägt den irritierenden Titel „Pattern, Decoration & Crime“, um zu betonen, wie sehr die Beteiligten in den siebziger Jahren die Standards der Tafelmalerei zerbrochen haben, indem sie Tapeten, bedruckte Gewebe, Patchwork Quilts, die Ornamentik mexikanischer Textilien, türkischer Stickereien und Kacheln, iranischer Miniaturen und japanischer Holzschnitte absichtsvoll vermischt in ihre Bilder einführten.
Joyce Kozloff und Miriam Schapiro gehörten zu den kämpferischen Feministinnen um die Kunsthistorikerin Judy Chicago. Sie betonten in ihren Kommentaren zu den Arbeiten die Programmatik, die Grenzen zwischen der männlich besetzten FREIEN KUNST und der weiblich besetzten ANGEWANDTEN KUNST zu überwinden. In der WOMEN ART REVOLUTION, die Lynn Hershman Leeson in ihrem Film 2010 darstellt, gehören sie zu denjenigen, die wie die Franzosen der supports surfaces Bewegung aus den Museen in den öffentlichen Raum, von der Kunst in das Design drängten. Der Selbstgenügsamkeit der amerikanischen Minimal Art stellten sie die sinnliche Fülle der interkontinentalen Ornamentgeschichte gegenüber und stehen am Beginn einer neuen emotionalen Malerei. Ich lernte diese Gruppe in der Folge Peter Ludwigs durch die New Yorker Galeristin Holly Solomon kennen und bin froh, dass die Aachener Sammlung Ludwig als einziges Museum in Europa diese Erbschaft bewahrt.
Abb. Miriam Schapiro „Eurydice“ 1972
Abb. Titel W.A.R.
Zu der Ausstellung „Die Erfindung der Neuen Wilden“ im Ludwig Forum für internationale Kunst in Aachen 2018“
Die Nouveaux Fauves – Neuen Wilden 1980 in der Neuen Galerie Sammlung Ludwig waren andere als die der aktuellen Ausstellung. Sie haben den Titel herbeigeführt.
Zum Beispiel Louis Viallat, der 1968 mit Freunden die Gruppe SUPPORTS SURFACES gründete. Es lag nahe, dass mich von Aachen aus die Franzosen interessierten;1974 hatte die Neue Galerie die „nouvelle peinture en France. pratiques/ théories“ gezeigt. 1980 hingen die Bilder von Viallat neben denen von Robert Kushner, und 1981 in „Die „Neuen Wilden 2. 6 Franzosen“, behängte und belegte Viallat den ganzen Ballsaal. (2014 haben ihn die Rostocker wiederentdeckt!)
SUPPORTS-SURFACES stellte den Keilrahmen ebenso in Frage wie Leinwand, Pinsel, Palette und Ölfarbe, rebellierte gegen die Konventionen der Ausstellungsorte, benutzte Alltagsfarben wie Fruchtsäfte und Schweröl, Jutesäcke, Lkw-Plane, Tischdecken. Viallat malte nicht, sondern stempelte mit einem abgerundeten rechteckigen Modul alle surfaces über ihre Ränder hinaus und hängte, legte und stapelte sie. Der alte Fauve Matisse der Scherenschnitte hätte in die Hände geklatscht. Die Gruppe, unterstützt und begleitet von dem Dichter und Kritiker Marcelin Pleynet, bewegte sich an den Museen vorbei auf öffentlichen Plätzen und forderte eine Kunstpraxis, die über die traditionellen Orte hinweg jene Menschen erreichen würde, die ihr nicht begegneten. Auch sie war bewegt vom „Mai 68“ und hat den revolutionären Impuls in die Kunsthochschulen Frankreichs getragen. Es versteht sich, dass alle Werke der Gruppe abstrakt waren, pattern und decoration verhandelten und dass ihre Autoren sich vor Morris Louis, Kenneth Noland und Mark Rothko verbeugten.
Als deutscher Kommissar der Pariser Biennale des Jeunes nahm ich in den 70er Jahren an ihren Bewegungen teil, und Peter Ludwig erwarb mehrere ihrer Werke in den Galerien Fournier und Templon. Nach der Eröffnung des neuen Centre Pompidou 1977 „leuchtete“ Paris. Als wir das Museum Ludwig in Koblenz gründeten, sollte dort ein Zentrum französischer Kunst entstehen, und die meisten französischen Werke der Sammlung wanderten aus Aachen dorthin.
Abb. Viallat „Ohne Titel“ 1978
Abb. Viallat Einzelausstellung im Ballsaal der Neuen Galerie 1983
Zu der Ausstellung „Die Erfindung der Neuen Wilden“ im Ludwig Forum 2018
WILD STYLE
Um 1970 begannen Jugendliche aus dem „Ghetto“ der Bronx mit Spray Guns TAGS, erfundene Signaturen in exotischen Schriften, auf die Wagons der New Yorker U-Bahn zu schreiben – ein Prinz, der in einer Nacht im Depot einen Wagen, ein König, der einen Zug schaffte. 1974 zeigte mir der New Yorker Künstler Gordon Matta-Clark eine 20 m lange Photoglyphe eines bemalten Subway-Zuges. Das war die erste Graffiti-Ausstellung der Neuen Galerie: „Die bemalte Untergrundbahn“. Wir zeigten dem Publikum den Film „Wild Style“ von Charles Ahearn, der 1983 der New Yorker Graffitii-, Hip-Hop- und Rapper-Szene ein Denkmal geschaffen hatte.
Die Graffiti-Writer, verfolgt von den Ordnungskräften, schafften den Sprung in den Kunstmarlt. Peter Ludwig kaufte die Bilder von CRASH, DAZE, FUTURA 2000, LADY PINK, NOC 167, LEE Quinones („Voice oft he Ghetto“) in der respektablen Galerie von Sidney Janis, und im gleichen Jahr hingen sie neben Werken von Jean-Michel Basquiat, Jonathan Borofsky und Julian Schnabel und wanderten von Aachen nach Dänemark und Norwegen.
Nirgendwo ist deutlicher demonstriert worden, dass die Subkultur, die junge Maler, Musiker, Tänzer, Dichter, Schauspieler schaffen, schnell in eine ermüdete Kulturszene eindringen, sie beleben und von ihr integriert werden kann. Die Spray Gun ersetzte den Pinsel in einer globalen Street Art, die die Wände der Straße dem Museum vorzog. Der Protest gegen eine hässliche Welt wurde verstanden, uferte aus und versandete. Die New Yorker Subway wurde gereinigt, die Künstler wurden zum Militärdienst eingezogen. Aber Graffiti lebt – global – und wird nicht überall geduldet.
Abb. Lee Quinones „Voice oft he Ghetto“ 1984
Zu der Ausstellung „Die Erfindung der Neuen Wilden“ im Ludwig Forum für internationale Kunst in Aachen 2018
FIGURATION LIBRE
In dem Fischerdorf Sète am Mittelmeer besuchte ich 1984 die Künstlerfamilie di Rosa, die eifrig am jungen Ruhm des Hervé mitarbeitete. Sie hatte einen Laden in Paris eröffnet, um die zahlreichen Arbeiten – Bilder, Zeichnungen, Möbel, Keramiken – anzubieten. Ich hüte heute noch einige Teller. Sie traten mit Robert Combas und Francois Boisrond als FIGURATION LIBRE auf und hoben sich von ihren Zeitgenossen durch die hemmungslose Produktion von bunten, locker komponierten und schnell gemalten comic-Paraphrasen ab. Es schien leicht, den WILD STYLE der New Yorker Graffiti Writer hier wieder zu finden, wenngleich die Franzosen den engen Rahmen der Kunst nie überschritten und von den Pariser Galerien gern aufgenommen wurden. Immerhin brachten sie in der Breite ihrer Produktion und ihrer Angebote eine freche Gleichgültigkeit und Liebe zu Kaufhäusern mit, die ihre Kunst an den Rand der Subkultur transportierten. So gelangten ihre Bilder auch in jenen Bereich der Sammlung Ludwig, der die „Neuen Wilden“ in der Neuen Galerie sichtbar machte. Sollte das Haus eine ständige documenta sein, so gehörten sie dazu. Im Sammlungskatalog „Kunst heute in Frankreich. Sammlung Ludwig Aachen“ 1987 ergänzen sie Jean Michel Alberola, Jean Charles Blais, Hélène Delprat, Gérard Garouste, Pierre Nivollet, ihren Großvater Jean Dubuffet und die Bilder der Gruppe SUPPORTS SURFACES.
In den ersten fünf Jahren der 80er nahmen sie teil am HYPE aller Kunsthändler und – sammler, die der „Hunger nach Bildern“ umtrieb. Nach den enormen Preissteigerungen der pop art und des Hyperrealismus waren ihre Werke preiswert. Wenige haben den HYPE erfolgreich überlebt.
Abb. Robert Combas „Feuerschlucker“ 1981
Zu der Ausstellung „Die Erfindung der Neuen Wilden“ im Ludwig Forum für internationale Kunst in Aachen 2018
„Die Neue deutsche Welle“
„klatsch in die hände/ und tanz den adolf hitler/und tanz den mussolini/ und jetzt den jesus christus/ klatsch in die hände/ und tanz den kommunismus“. 1981 kreierte die Gruppe Deutsch-amerikanische Freundschaft DAF dieses Lied, und der DJ Markus Oehlen legte es im Ratinger Hof in Düsseldorf auf. Alle waren in Carmen Knoebels Künstlerkneipe neben der Akademie zu Hause. Mit seinem Bruder Albert, Immendorff, Büttner, Kippenberger und Penck produzierte Markus selbst die Platte „Rache der Erinnerung“. Jürgen Teipel hat die Szene in seinem Doku-Roman 2001 beschrieben „Verschwende Deine Jugend“. Damals (1984) malte Albert Oehlen 2 Fassungen seines Hitler-Bildes (140 x 140 cm), das in den Ausstellungen Ratlosigkeit hervorrief. Kann einer so eine schandbelastete Ikone satirisch aushebeln? Wird er nicht selbst zum Faschisten? Der Neuen Deutschen Welle in ihrer nihilistischen no future Stimmung waren Bezüge zu nationalsozialistischen Personen und Inhalten („Blitzkrieg“, „SS Hitler“, „Adolf und Eva“) geläufig. Sie spielten sarkastisch mit ihnen. Nazi-Rockbands mit eindeutigen Aussagen wie „Störkraft“ wurden erst in den 90er Jahren bekannt. So blieb nichts Anderes möglich, als das Bild Oehlens auch als ironische Paraphrase zu betrachten, in der einer das, was er darstellt, entwertet, verlacht, vernichtet. Nach den Auseinandersetzungen Kiefers und Baselitz´s mit dem Hitlergruß in den 60er und 70er Jahren und vor den Varianten, die Jonathan Meese in den letzten Jahren geboten hat, ist freilich Oehlens Bild die drastischste Aneignung einer allbekannten Person und wird darum nicht aufhören, widerstreitende Reaktionen zu erzeugen. Eine Katharsis zu erreichen hat der Maler wahrscheinlich nicht beabsichtigt.
Abb. Albert Oehlen „Adolf Hitler“ 1984
Zur Ausstellung „Die Erfindung der Neuen Wilden“ im Ludwig Forum für internationale Kunst in Aachen
„Street Art“
Seit 1974 hing Renato Guttusos großes Historienbild „Mai 68“ in der Neuen Galerie – Sammlung Ludwig in Aachen. Die Pariser Revolte erzeugte ein Erdbeben, das auch dort gespürt wurde. Erste Hausbesetzungen - Erste Graffiti-Ausstellung: die Photoglyphe Gordon Matta-Clarks mit einem ganzen Subway-Zug mit Spraygun-Tags bedeckt. 1978 schreckten die Aachener vor großen farbig gemalten, beschrifteten Wandbildern in verschiedenen Straßen auf: „Irrenhaus“, „Angst“, „Es herrscht immer Krieg in den Fabriken“ und, 1979, „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“. Wer arbeitete dort im Untergrund? Endlich entdeckte man das Malerpaar unter den Besetzern des Johannes-Höver-Hauses in der Apsis der Kapelle an seinem Riesenbild „David und Goliath“. Es arbeitete nachts rechtlos und verfolgt wie die Graffiti-Writer, malte keine Signets, keine Tags, keine persönlichen Botschaften, sondern folgte Anstößen aus dem sozialen Raum, äußerte Albträume über die Ängste der Schüler, der Schwulen, empörte sich über die Neonazis, den grassierenden Faschismus und die Gefahren der Atomenergie. Die kantige grafische Bildsprache, die an Bilder von Guittuso und „Guernica“ von Picasso erinnert, wurde zum Markenzeichen des einen, die spielerischen, kurvenreichen Linien kennzeichneten den anderen. Im Projekt der „Nouveaux Fauves –Neuen Wilden“ sollten sie ebenso ihren Platz finden wie der „Wild Style“ der New Yorker.1984 stellte die Neue Galerie 58 ihrer Fotografien der realisierten Werke aus, feierte die noch anonymen Autoren unter ihren Ku klux Kan-Kapuzen – und erwarb die Fotos für die Sammlung.
Klaus Paier und Josef Stöhr verdienen unter den Neuen Wilden der frühen 80er Jahre ebenso einen Platz, auch wenn sie nicht wie Lee Quinones in New York, sondern in Aachen gearbeitet haben. Beide sind Teil einer „Street Art“-Bewegung, die sich jenseits der Museen ausbreitet und ihre Selbstverständnis angreift.
Zur Ausstellung „Die Erfindung der Neuen Wilden“ im Ludwig Forum für internationale Kunst in Aachen 2018
OSTKUNST 1 DIE RUSSEN
Die Ausstellung „Im Westen nichts Neues – Wir malen weiter“ der Berliner „Neuen Wilden“ 1982 ging die große Ausstellung der Neuerwerbungen Peter Ludwigs in Moskau voraus: 97 Gemälde, 10 Skulpturen und 485 Grafiken – „Aspekte sowjetischer Kunst der Gegenwart. Sammlung Ludwig“. Sie wanderte nach Wien, Regensburg, Lübeck, Hövikodden, Tilburg, Saarbrücken und Mainz. Elena Korowin schildert ihr Echo in ihrem Buch „Der Russen-Boom. Sowjetische Ausstellungen als Mittel der Diplomatie in der BRD“ 2015.
In der Zentrale des sowjetischen Künstlerverbandes gab es kein Fotokopiergerät, um die Erwerbslisten Peter Ludwigs zu vervielfältigen. Ihr Freund würde es für die Verbreitung seiner Samisdats missbrauchen. Es schien nicht leicht, unter den Kontrollen des Verbandes und des Staates ein „Wilder“ zu sein. Dennoch gab es Nachtausstellungen in Wohnungen und verschwiegene Angebote an die Mitarbeiter der westlichen Botschaften, aber was Peter Ludwig erwarb, musste er mit den Vorsitzenden des Verbandes aushandeln. Ein Kunsthandel existierte nicht.
Das Bild des Nikolai Andronov „Das tote Pferd und der schwarze Mond“ in seiner skizzenhaften groben Faktur erinnert an die Bilder französischer und flämischer „Fauves“,
überträgt die helle Farbigkeit in die Dunkelheit der russischen Nacht und erhöht die Melancholie durch Gesten der Verzweiflung und eine Mondfinsternis. Der sowjetische Botschafter in Bonn Wladimir Semjonow, der 1980 seine Kunstsammlung im Kölner Ludwig Museum präsentiert und Ludwig zu den Einkäufen in Moskau ermutigt hatte, hielt Andronov für den RUSSISCHEN Maler schlechthin und grenzte ihn patriotisch gegenüber vielen anderen ein, die aus Schulen jener Republiken stammten, die, wie die baltischen, heute ihre Autonomie pflegen. 1981 stellte ich ihn und seine Frau Egorshina in der Neuen Galerie aus.
Der „Russen-Boom“ in den 80 Jahren begleitete den Boom der Neuen Wilden. In Aachen gaben die einen den anderen die Hand.
Zu der Ausstellung „Die Erfindung der Neuen Wilden“ im Ludwig Forum für internationale Lunst in Aachen 2018
OSTKUNST!
Bevor Peter Ludwig zeitgenössische Kunstwerke von Künstlern der DDR erwarb, verhandelten der Vorsitzende des Künstlerverbandes und der Direktor der Berliner Nationalgalerie mit ihm über Leihgaben westeuropäischer und amerikanischer Kunst, und ich hatte Gelegenheit, 1977 an der diskreten Eröffnung der Picasso-, Lichtenstein- und Warhol-Leihgaben in Ostberlin teilzunehmen. Erst danach begann Ludwig, assistiert von Wolfgang Schreiner, in Berlin, Leipzig und Dresden, Werke der Verbandskünstler Willi Sitte, Wolfgang Mattheuer, Werner Tübke, Bernhard Heisig u.a. zu erwerben und nach Aachen zu schicken. Den „Wilden“ standen nun jene gegenüber, die sich bemühten, den Projekten sozialistischer Ideologien zu folgen und das Feindbild kapitalistischer Vergangenheitsbewältigung in Bilder zu fassen. Werke des Revoluzzers Penck besaß Ludwig schon, andere von Altenbourg und Carlfriedrich Claus folgten. In der Podiumsdiskussion während der Eröffnung der DDR-Ausstellung in der Neuen Galerie 1979 hielt sich Mattheuer zurück, und seine Bilder gewannen die Sympathie vieler Betrachter, weil sie eine distanzierte Haltung zu Botschaften der DDR, ja eine versteckte Kritik an ihrem aktuellen Selbstbewusstsein, wenn nicht gar eine Vision zeigten, die in die Zukunft der Wiedervereinigung wies. Worüber erschrak Mattheuer in seinem Doppelporträt von 1977 nackt, im Dunkel eines Feldes grell beleuchtet? Vor Volkspolizisten, die ihn suchten? Vor einem Staat, der keine Freiheit zuließ? Vor einer Ausweglosigkeit? Das war keine Verzweiflung wie im „Schrei“ von Edvard Munch, aber eine monumentale Gebärde der Abwehr gegen eine Macht, vor man nur flüchten kann. In diesem politischen Tauwetter der 80er Jahre erschien die Neue Galerie mit der Sammlung Ludwig als ein Pionier der Öffnung, andere Sammler und Kuratoren folgten.
Zu der Ausstellung „Die Erfindung der Neuen Wilden“ im Ludwig Forum für internationale Kunst in Aachen – bis zum 10. März 2019
Albert Oehlen „Ohne Titel (Seerosen)“ 1982
Die „Liga zur Bekämpfung widersprüchlichen Verhaltens“ gründeten Albert Oehlen und Werner Büttner in Hamburg. Er fand den Titel „Neue Wilde“ „albern“ und schlug „Postungegenständlich“ vor. 1982, als dieses Bild entstand, arbeitete er mit Martin Kippenberger, und Max Hetzler hatte ihm die erste Einzelausstellung in Stuttgart eingerichtet. Das große zweiteilige Bild hat einen Titel in Klammern „Seerosen“, er erlaubt eine Referenz zu dem berühmten Alterswerk von Claude Monet in der Pariser Orangerie.
Oehlen führt den Betrachter über eine harte Uferkante nach links auf ein Gerüst aus drei vertikalen dicken Holzbohlen, in die drei horizontale gesteckt und mit ihnen verschraubt sind. Es steht lange schon in einer ruhig plätschernden Wasserfläche; eine Spinne hat zwischen zwei der Pfeiler ihr Netz ausgebreitet. In die rechte getrennte Bildhälfte ragen die Bohlen, die das Gerüst tragen, hinein. Es ist nicht klar ersichtlich, dass einer der Balken eine schwarze runde Scheibe und den Betonsockel trägt, auf dem eine Kopfskulptur im Profil befestigt ist. Nummerierte Schlagschlüssel liegen ungeordnet am Ufer. Tatsächlich sind zu Füssen der Büste vier hellrote Blütenbündel emporgeschossen: die Seerosen.
Die „Sixtinische Kapelle des Impressionismus“, die Monet Frankreich hinterlassen hat, steht hier für den Gipfel einer europäischen Ästhetik gemalter Bilder, der Albert Oehlen ein anti-ästhetisches Manifest entgegen zu stellen versucht: den Teichen in Giverny das Brackwasser eines Meeres, den mächtigen Trauerweiden das Bollwerk eines Gatters und dem unsterblichen Meister den Künstler als scharfes anonymes Profil verewigt im versperrten Denkmal – mit Schlagschlüsseln befestigt, von vier vereinsamten Seerosen gefeiert. Der reichen Palette Monets steht die Tristesse einer lose gemalten Einheit von Braun-, Grau- und Grüntönen auf weißem Grund gegenüber. Ironisch meint Oehlen: „Also, man müsste das Medium möglichst großen Belastungen aussetzen, dann kommt richtige Schönheit heraus“.
Das Bild hat Peter Ludwig kurz nach seiner Entstehung für die Neue Galerie erworben. Jetzt hängt es im Ludwig Forum.
Wolfgang Becker
„Mein Freund Hitler“
Adolf Hitler in der zeitgenössischen Kunst -
Adolf Hitler in contemporary Art
Ein Ausstellungsprojekt - an exhibition project
Das Bild Adolf Hitlers steht heute in einer Galerie satanischer Gestalten und entwickelt eine Aura, die mit apokalyptischen Ängsten und Todessehnsüchten besetzt ist: ein biederer gefallener Engel von klinischer Reinheit, ein Berserker der Hölle.
Das Bild trat in den letzten Jahren in einigen Arbeiten bildender Künstler auf. Jedes hat mich erschreckt. Erschien mir das Bild in den elitären Zirkeln der Intellektuellen tabuisiert und nur zulässig in einem Sumpf des moralischen Untergrundes? Ich begann, nach einem Gespräch mit diesen Arbeiten zu suchen – in großer Bescheidenheit, denn ich weiß, dass hinter meinem Rücken Tausende von Publikationen über das Dritte Reich, den Holocaust, den Streit der Historiker mit den Revisionisten und den Faschismus im 20. und im 21. Jahrhundert gestapelt sind.
Das Foto
1943 trug ich einen „Hitler-Haarschnitt“, eine Haarinsel auf der Schädeldecke mit einem präzis gezogenen Scheitel rechts; er diene der Hygiene, sagte man uns; aus der Schule wurden wir häufig mit Kopfläusen nach Hause geschickt. Dort hing im Wohnzimmer ein Foto von Hitler, nicht größer als 18 x 24 cm. Mein Vater lieferte es mit dem Buch „Mein Kampf“ den Engländern aus, als sie den Ort besetzten. Ich habe ihm das lange vorgeworfen. Immer, wenn ich an der Wand eines Raumes die Schmutzränder eines Bildes entdecke, das entfernt worden ist, denke ich an Hitlers Foto in der Wohnung meiner Kinderzeit.
Das schwarz-weiße Foto hing in vielen Wohnungen. Es zeigte den Kopf frontal und versuchte, das Bild des Hausheiligen, das Andachtsbild, die Ikone zu verdrängen. Es war ebenso „verordnet“ wie jene, aber es besaß eine andere Qualität der Glaubwürdigkeit. Als Siebenjährige konnten wir mit dem Bild weder das eines Helden noch das eines Germanen verbinden, sondern dachten, wenn wir es betrachteten, an solche Schullehrer, die dazu neigten, uns zu quälen.
Die Erscheinung Hitlers wurde durch dieses Foto, durch seine militärische Uniform, in der er sich (mit wenigen Ausnahmen) darstellte, und durch den gehobenen rechten Arm, den „Hitler-Gruß“ allgegenwärtig. Der Kopf, die Uniform und der Gruß sind im Gedächtnis der Menschheit eingebrannt. Die Erinnerungen, die sie erregen, sind ebenso vielfältig, widersprüchlich und unscharf wie die Gefühle: sie reichen von tiefstem Grauen bis zu dumpfer Verehrung.
Einige Kunstwerke, die in den letzten Jahren entstanden, haben diese Erinnerungen von neuem wachgerufen. Sie erregten Aufsehen, weil sie Bilder Hitlers wiedergaben, und beide, die Bilder und das Aufsehen, das sie erregten, das schwankende Verhältnis zueinander sind Thema dieses Textes. Ich versuche, dem “Zeitgeist“ jener Epoche – meiner Epoche - zu folgen, der die Vergangenheit des „Dritten Reiches“ in dramatischen Wandlungen verarbeitet hat. Mich begleiten dabei die Sätze von Dmitri Prigow, die er dem Gedicht „Hitlers Braut“ 1992 vorangestellt hat:
„So wächst das Vergangene und weit Zurückliegende in kaum begreiflicher Weise hinüber in die Gegenwart. Und durch die schnurrbärtigen Gesichter der Kriegshelden, durch die hohen Stirnen unserer Zeitgenossen, durch die Zeitungskarikaturen hindurch schimmern die ewig währenden Bilder der Retter und Nährer von Heimat und Vaterland, der Märtyrer für Volk und Wahrheit, der „Unsrigen“ und „unserer Feinde“. Und der aufmerksam Hörende erkennt in den Losungen und Aufrufen, im Festtagsjubel und im Straßengezänk die Archetypen von Beschwörungen, Ekstasen, Kultgesängen usw., deren strukturbildendes Pathos unsere Gegenwart unverfälscht und unerschütterlich durchdringt“ (1)..
Der Gruß
Die Bilder des „Dritten Reiches“ eignen sich vortrefflich als Instrumente zu Angriffen und Provokationen, und seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts – nach den Vorläufen in der DADA-Bewegung und im Surrealismus (Breton hat Dali auch aus der Gruppe seiner Freunde ausgeschlossen, weil er mit Hitler sympathisierte und sein Bild in einigen seiner Werke zitierte; das Foto meiner Kindheit malte er 1938 auf einem Teller in dem Gemälde „Das Rätsel Hitler“) - hat die Provokation eine wachsende Rolle in der bildenden Kunst und ihrer öffentlichen Wirkung übernommen.
Wie hat sich die Strategie der Provokation, wie hat sich ihre Wirkung in diesen vierzig Jahren gewandelt?
Cattelan
Im Frankfurter Museum für Moderne Kunst sind 2007 an einer großen Wand in einer Höhe von etwa 250 cm nebeneinander allein drei etwa gleiche vorgestreckte rechte Arme eines überlebensgroßen Mannes montiert. (Abbildung) (2). Weiße geknöpfte Manschetten ragen aus den zivilen Jackenärmeln. Es ist der „Gruß“, wenngleich der Italiener Maurizio Cattelan
( * 1960 ) die Arbeit „Ave Maria“ genannt hat. Der verdreifachte Gruß wird durch den katholischen Titel nicht christianisiert, er erhält sich die Erinnerung an lautstarke Masseninszenierungen.
Baselitz
1980 hat ein „Gruß“ Aufsehen erregt: eine große Holzskulptur von Georg Baselitz
(* 1938) in dem feierlichen Zentralraum des deutschen Pavillons der venezianischen Biennale – ein roh bearbeiteter Block, dunkel bemalt („mit Blut beschmiert“ schrieben einige) – eine kräftige sitzende nackte Männergestalt, gerade zurück gelehnt, den rechten Arm mit nach oben geöffneter Hand erhoben(Abbildung). Norman Rosenthal sagte vor der Figur in ihrer Londoner Ausstellung 2006 : "Es erinnert an einen amputierten Hitler". Allzu wenig erinnert an den faschistischen Gruß, zu sehr ist hier einem festlichen Gefühl im Sinn jener Dithyrambe Ausdruck gegeben, für die Markus Lüpertz ein eigenes Motiv erfand; aber der erhobene Arm genügte; die internationale Kunstgemeinde war nervös, Baselitz und Lüpertz wurden faschistischer Haltungen verdächtigt. Anselm Kiefer und Hans Jürgen Syberberg hatten dazu beigetragen, einen Streit über das Erbe des Dritten Reiches auszulösen.
Kiefer
„Besetzungen“ heißt eine Serie von Schwarz-Weiß-Fotografien Kiefers (* 1945), eine Examensarbeit von 1969 an der Karlsruher Akademie mit der Überschrift „Zwischen Sommer und Herbst 1969 habe ich die Schweiz, Frankreich und Italien besetzt. Ein paar Foto“ (Abbildungen). Sie zeigt den Künstler in Reithosen und –stiefeln in einiger Entfernung vom Fotografen auf dem Forum Romanum und vor dem Kolosseum, in den Ruinen Pompejis, auf einem Friedhof in Arles, am Strand von Sète, vor einem Reiterstandbild in Montpellier und oberhalb eines Tals bei Bellinzona – frontal, mit erhobenem rechten Arm grüßend. In den Buchobjekten „Für Genet“ und „Heroische Sinnbilder“ verarbeitete er das Motiv weiter.
Der Gruß gehört der römischen Antike wie das Forum Romanum oder das Kolosseum, und der Titel „Besetzungen“ verwirrt ebenso wie die Kostümierung. Nichts lässt zu, in dem Salutierenden einen ranghohen Nationalsozialisten bei einer „Landnahme“ zu sehen. Und dennoch: selbst dort, wo Kiefer als Rückenfigur das Meer grüßt und den Vergleich mit Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“ evoziert, erhält sich die Geste ihre geradlinige Referenz zum „Dritten Reich“.
Cattelan verbirgt sich hinter seinem „Gruß“ (buchstäblich hinter der Wand); man weiß, dass er Interviews und Fototermine meidet. Nichts soll seine Person an die Werke binden, die er herstellen lässt. Anders der junge Kiefer: für ihn ist die Identifizierung mit dem Foto radikal: er ist das Bild, und er ist der, dessen Gruß er annimmt. „Ich identifiziere mich nicht mit Nero oder Hitler, aber ich muss ein wenig nachvollziehen, was sie taten, um den Wahnsinn zu verstehen. Darum mache ich diese Versuche, ein Faschist zu sein“ (3). „Ich transportiere die Geschichte in mein Leben existentiell hinein. Für mich ist Geschichte immer auch meine Wirklichkeit“ (4).
Diese Haltung war 1969 gegen jene gerichtet, die ihre Wirklichkeit geschichtslos zu leben versuchten, die jene Vergangenheit verdrängten, die nicht nur von Grauen, Not und Verzweiflung, sondern auch von Verführungen, Erhebungen, Jubel und Ekstasen bestimmt war – gegen die Generation jener Väter, die der Faszination des Faschismus erlegen waren.. Als Kiefers „Heroische Sinnbilder“ in den folgenden Jahren bekannt wurden (die „Besetzungen“ erschienen in der Zeitschrift Interfunktionen 1975 in Köln), stießen sie in eine hitzige öffentliche Debatte unter deutschen Künstlern, Kritikern, Literaten und Historikern, die sich steigerte und international ausweitete, als der Film „Hitler“ von Hans Jürgen Syberberg und der erste Band von Klaus Theweleits Buch „Männerphantasien. Frauen, Fluten, Körper, Geschichte“ 1977 erschienen (5).
Sabine Schütz hat daran erinnert, dass die Psychoanalytiker Margarethe und Alexander Mitscherlich schon 1967 in ihrer Studie „Die Unfähigkeit zu trauern“ „als einzige Möglichkeit zur Überwindung der nachkriegsdeutschen Verdrängungsneurose die Einfühlung in die Mentalität der Täter indizieren“ (6), Theweleit führt diesen Gedanken als das Konzept eines französischen Psychoanalytikers aus: „Der Weg der Erkenntnis wäre vielleicht der, das eigene Unbewusste nicht zu verdrängen, die Geschichte (des Faschismus) vom eigenen Unbewussten „durchleben“ zu lassen, so dass die Erkenntnis der Geschichte schließlich über eine Erfahrung des eigenen Unbewussten geschieht.“ Er zitiert Walter Benjamin: „Was man vernichten will, das muss man nicht nur kennen, man muss es, um ganze Arbeit zu leisten, gefühlt haben.“ Und fügt einschränkend humorvoll hinzu: „Bei diesem Vorschlag stehen den Historikern die Haare zu Berge“ (7). Schließlich ist Bazon Brock 1983 den Kritikern Kiefers entgegen getreten, indem er seine „affirmative Strategie“ in ihrer Geschichte begründet. Er zitiert Karl Marx mit dem markanten Satz: „Man muss die versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen bringen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt“(8).
Hitler in uns
Syberberg
Hans Jürgen Syberbergs (* 1935) Film „Hitler. Ein Film aus Deutschland“ dauert 442 Minuten und besteht aus den vier Teilen „Der Gral“, „Ein deutscher Traum“, „Das Ende eines Wintermärchens“ und „Wir Kinder der Hölle“. Er folgte den Filmen „Ludwig – Requiem für einen jungfräulichen König“ (1972) und „Karl May“ 1974, gemeinsam sei den drei Protagonisten „die Suche nach dem verlorenen Paradies“: später (1982) entsteht „Parzifal“.
Der „Theaterdirektor“ im Film schlägt vor, jeder möge nicht jenen Hitler spielen, der besetzt worden ist, den Ritter, den Teppichfresser, den Napoleon, den Hamlet, das Rumpelstilzchen, den Kasper, nicht den des Charlie Chaplin, sondern „seinen“, den „Bruder Hitler“, und er lässt den „Führer“ als Puppe erscheinen, die Ludwig II. im Arm wiegt, als Marionette, die ein sichtbarer Sprecher führt, und als Tragöden in antikem Gewand, der an der „Mythologisierung der Seele“ mitwirkt. „Ich bin das schlechte Gewissen der demokratischen Systeme.“ Die outrierten Bilder des „Führers“, die Marionette und der exaltierte Schauspieler, sind eingebunden in einen strömenden, von Monologen, von Wortflüssen bestimmten Handlungsablauf. Der Betrachter ist daraus entlassen. Er sitzt staunend, überwältigt im Zuschauerraum eines Filmfestspieltheaters. Dieser Hitler ist nicht in ihm, sondern dort, auf der Bühne, außer ihm(Abbildung).
Syberbergs Film erregte die deutschen Intellektuellen, seit er 1980 im öffentlichen Fernsehen gezeigt wurde und weil prominente ausländische Kritiker wie Susan Sontag, Michel Foucault und Alberto Moravia ihn würdigten. Susan Sontags Kommentar 1980 ist Syberberg so wichtig, dass er ihn noch heute im Begleitheft zu der DVD des Films zitiert: „Indem er romantische Grandiosität mit der Hefe modernistischer Ironie durchsetzt, gibt er ein Spektakel vom Spektakel, inszeniert er die show of the shows, Geschichte – in einer Vielzahl dramatischer Stile – Märchenspiel, Zirkus, Moralität, Allegorie, magische Zeremonie, philosophischer Dialog, Totentanz -, mit einer nach Millionen und Abermillionen zählenden imaginären Besetzung und mit dem Teufel persönlich als Hauptfigur.“ (9).
In seinem die Grenzen aller Kunstgattungen überschreitenden, in einen Film komprimierten Gesamtkunstwerk vom Ausmaß und der Länge eines Weihespiels Richard Wagners (der im gesamten Oeuvre immer präsent ist) hat Syberberg Hitler auf einzigartige Weise dämonisiert und jenen Komplex geschaffen, der bis heute die Definition des Deutschen in der ganzen Welt mitbestimmt: den „Hitler in ihm“ – und die Angst vor ihm.
Cattelan
Seiner Stockpuppe im Schoß Ludwigs II. steht am Ende der Epoche die Wachsfigur Hitlers von Maurizio Cattelan von 2001 gegenüber – im Körper eines Zwölfjährigen im Tweed-Anzug mit weißem Hemd und Krawatte, kniend, die Hände gefaltet, den allzu großen Kopf leicht gehoben (Abbildungen). „Him“ nennt er ihn: alle sollten ihn kennen. (Neben dem Titel des dreifachen Grußes „Ave Maria“ könnte hier „Ecce Homo“ stehen.) Die Backenknochen treten hervor, die Wangen sind eingefallen, den demonstrativen, pathetischen Ernst, der dem fotografierten Hitlergesicht meist eigen ist, ersetzt ein Element von durchgeistigter Trauer. Er hat die Hände wirklich gefaltet, nicht die rechte über der linken vor dem Schoß gehalten, wie offizielle Fotos ihn häufig zeigen. Der Mund ist fest geschlossen.
Die Skulptur folgt nicht der Typologie der Adoranten, wie sie vor allem aus Altarbildern des späten Mittelalters bekannt ist, sie hat nicht die anbetenden Hände erhoben, sondern im Schoß gesenkt; sie entspricht eher dem Gedemütigten, der von einem Mächtigeren auf die Knie zu sinken angehalten wird.
Die irritierende Diskrepanz der Proportionen zwischen Kopf und Körper lässt Deutungen in zwei Richtungen zu: gemäß jenem schmerzlichen Schlagwort „Hitler in uns“ wäre der Dämon in einen betenden Schuljungen gefahren, oder dieser Hitler wäre das Monstrum, das sich einer quälerischen, fehlgeleiteten, verwirrenden Kindheit verdankt. Beide Deutungen sind von einem eindringlichen Mitleid bedingt, das der Betrachter abzuschütteln versucht.
Es entsteht nicht der Wunsch, etwas über diejenigen zu erfahren, die die Figuren in Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett hergestellt haben, weil es für selbstverständlich gehalten wird, dass sie ihre Aufgabe erfüllten, Abbilder zu schaffen. Erst wenn in der Wahrnehmung eine Störung eintritt, wenn das Abbild etwas Unerwartetes enthält, wird nach dem Autor gefragt. Nicht nur Kunsthistoriker suchen deshalb beständig nach den Porträts der Künstler in ihren Werken. Folglich entsteht die Frage: was verbindet Cattelan mit Hitler? Und: wenn er sich nicht äußert, wenn er sich ihm nicht als Künstler entgegen stellt, spiegelt er sich in ihm? Sucht er, der in New York lebenden Italiener, wie Syberberg nach dem Hitler in ihm?
My Friend Hitler
Or-Ner
In Tel Aviv hat 2006 der israelische Künstler Dov Or-Ner eine Serie von 100 Zeichnungen unter dem Titel „My friend Hitler“ ausgestellt (Abbildungen) (11). Er und sein Bruder sind nicht wie seine Familie in Auschwitz umgekommen, sondern konnten in einem Kloster in Südfrankreich Schutz finden. Diese rot-blau-gelben Farbstiftzeichnungen sind in den letzten Jahren entstanden, in großem zeitlichem Abstand zu den Ereignissen seiner Kindheit, und dennoch ist es eine persönliche, akute Betroffenheit, die sie andeuten. Er setzt ihnen in dem kleinen Katalog zur Ausstellung einen Monolog voran, den er Hitler sprechen lässt. Er endet: „Okay, okay, so maybe I was a little weird (?) not crazy. Just a little weird.” So führt er ihn vor: als Masochisten, der sich die Eichel mit einer Kerze versengt, als Hermaphroditen in verschiedenen weiblichen Kostümierungen, als Missgeburt, Exhibitionisten, Tänzer, Tänzerin, Masturbierenden, einen Menschen, der sich wünscht, dass hinter dem durchsichtigen Spiegel seines Badezimmers Voyeure versammelt sind; einen „freak“, gestikulierend, grimassierend, fast immer erkennbar „er“
Eine Bildsprache wie diese, die Erinnerungen an den deutschen Expressionismus enthält, und die Inhalte, die sie vermittelt, eben „ freaks “, diente den Nationalsozialisten dazu,
von „ entarteter Kunst “ und von „lebensunwertem Leben“ zu sprechen. Der Hitler des Dov Or-Ner würde das Dritte Reich nicht überleben. In 100 Blättern wird er hier vernichtet.
Es sind klar umrissene Emotionen, die den Künstler leiten: Bitterkeit, Zorn, Verachtung, Hass. Ein geringes Maß an Distanz zum Objekt erlaubt ihm, zu spotten. Der deutsche Künstler Blalla W. Hallmann (* 1941) bietet sich an, dieses Element des Spottes zu umreißen.
Hallmann
Hallmann starb 1997 und hinterließ eine Gruppe von Hitler-Bildern, die er in den frühen neunziger Jahren malte (Abbildungen) (12). Er machte seit den siebziger Jahren mit bösartigen Zeichnungen, Radierungen und gemalten Bildern, die eine patophile Ästhetik berührten („borderlining“), auf sich aufmerksam und hinterließ ein eigenes Museum, das Freunde für ihn in Windsheim bei Nürnberg eingerichtet haben. In seinen Hitlerbildern bemühte er sich um eine altmeisterliche Perfektion und Naivität, die der Kunst des Dritten Reiches, wie er sie verstand, Tribut zollt.
„Onkel Wolf “ (so hieß Hitler in den Familie Wagner in Bayreuth) in brauner Uniform mit einem Blumenkranz im Haar und einem Zeisig auf der grüßenden rechten Hand, steht auf einem Haufen von nackten Leichen und „zaubert “ (so heißt das Bild):er hält mit der Linken sein Glied umfasst und uriniert auf sieben kleine hitlergrüßende Mädchen in weißen Hemdchen mit Preiselbeerkränzen im Haar; er löscht die Flammen, die auf ihren Köpfen brennen und erinnert so an das schwedische Lichterfest: „Schwer liegt die Finsternis auf unseren Gassen, / lang hat das Sonnenlicht uns schon verlassen./ Kerzenglanz strömt durchs Haar. /Sie treibt das Dunkel aus: / Santa Lucia! Santa Lucia!“ Das Bild „Ihr schönster Tag “ zeigt auf einer mit Pusteblumen besetzten Wiese vor schwarzem Himmel einen frontal aufrecht stehenden, stramm grüßenden Hitler, dem ein kleines blondes Mädchen in blauem Kleid das Vergnügen einer Fellatio beschert. („Hallmann zeigt, dass Hitler ohne Pornografie nicht zu zeigen ist.“ (Klaus Theweleit) (13)). 1994 malte Hallmann Hitler und Nietzsche auf einer Eisscholle vor jenem Eismeer, das Caspar David Friedrich bekannt gemacht hat ( „ Die gescheiterte Hoffnung “.) Ihre Köpfe wachsen aus Kleinkinderkörpern, sie sind mit kurzen Hemdchen bekleidet, Hitler ein Mädchen mit Palette, Nietzsche ein Junge mit Holzpferdchen auf Rädern. Sie geben sich die rechte Hand (13).
Im Gegensatz zu den Bildern des Dov Or-Ner zeigen die Hallmanns ein geringes Maß an persönlicher Betroffenheit, er teilt den Hass auf das Dritte Reich und seine Verkörperung in Adolf Hitler mit seiner Generation in Deutschland. Der beißende Spott, der die Kunst des Dritten Reiches einbezieht, ist seine Möglichkeit, sich zu entlasten. Wie Dov Or-Ner zielt er in der Person Hitlers auf Elemente, die ihn zum Anormalen stempeln. Or-Ner erfindet sie, Hallmann knüpft an bekannte Themen wie die häufig propagierte Kinderliebe des Kinderlosen an, die sich der Perversion anbietet (14). Die Strategien beider Künstler sind gegen ein Feindbild gerichtet. Der Titel der Ausstellung in Tel Aviv „My Friend Hitler“ desavouiert die Gefühle der Hinwendung und der Empathie mit bitterster Ironie.
Ivanov
Man gerät hier schnell in den Bereich der Belustigung. So versetzt der sibirische Maler Juri Ivanov (* 1950) in Barnaul Hitler in einen „Bunker Karzer 6“, anspielend auf Tschechows Novelle „Krankensaal 6“, ein Irrenhaus, vor dem sich der eingebildete „Führer“ stolz mit Hakenkreuzbinde und einem Dossier „Mein Leben“ unter dem Arm präsentiert (Abbildung) (15).
Vom Bruch, Knoebel
Aber nicht nur im fernen Sibirien, auch in deutschen Kreisen von Künstlern und Intellektuellen gibt es Beispiele, in denen Zeitgenossen „dämonisiert“ wurden. Hier sind zwei davon: Klaus vom Bruch (* 1952) stellt den Kunsthändler Franz Dahlem in einer Drucksache mit der Überschrift „Der liebenswürdigste Kunsthändler Bayerns“ dar, und die Galerie Klein in Bonn gibt 1984 eine Postkarte heraus: „Die geistige Umnachtung eines Rahmens. Imi Knoebel: Schwarzes Quadrat“. Sie zeigt einen amerikanischen Präsidenten mit Hitlerbärtchen, bezeichnet mit einer kleinen weißen Tafel als Imi Knoebel.(* 1940) (Abbildungen) (16).
Grundmann
Mir fällt ein neues feines Buch in die Hände, dass der Salon Verlag dem Kölner Maler Thomas Grundmann unter dem Titel „Killing Philistines!“ widmet. Grundmann betreibt in Köln ein Studio für elektrische Tätowierungen und bearbeitet in diesem Randgebiet zwischen Körper- und Bildzeichnung und –malerei Themen der Pop-Kultur. Er führt im Stil der Comics den Tod Hitlers und Eva Brauns und seinen unendlichen Ruhm vor: „55 million ways on how 2 become a celebrity!“ (Abbildungen) (17)
Mishima
Wem kann Hitler ein Freund sein? „Waga tomo Hittorâ“ „Mein Freund Hitler“ ist der Titel eines Theaterstücks des japanischen Autors Yukio Mishima (* 1925). Vor der Uraufführung in Tokio verteilte er selbst Flugblätter mit dem Satz „Eine abscheuliche Huldigung an Hitler, diesen gefährlichen Helden, von dem gefährlichen Ideologen Mishima“. 2000 erregte das Brandenburger Theater mit der deutschen Uraufführung einen Skandal. 2008 wird das Theater Mannheim das Stück zeigen.
Das Stück gibt vor, in einem Gespräch zwischen Gustav Krupp, Georg Strasser, Ernst Röhm und Adolf Hitler das historische Ereignis der Nacht des 30. Juni 1934 zu schildern, in der Hitler Göring und Himmler anweist, Strasser, Röhm und die Anführer der SA exekutieren zu lassen. Strasser sieht seinen und Röhms Tod voraus, warnt jenen, die Revolution, die 1923 begonnen habe, sei beendet, aber Röhm vertraut seiner Freundschaft mit Hitler und begeistert sich für einen zweiten revolutionären Anlauf. Seine faschistische Fantasie, seine Träume von Bluträuschen, seine unverbrüchliche Männerfreundschaft sind das Thema des Dramas, er ist die Identifikationsfigur Mishimas. Röhms Freundschaft hat dem Stück den Namen gegeben.
Die psychischen Deformationen jener militanten Nationalsozialisten der ersten Stunde hat Theweleit in den „Männerfantasien“ ausführlich untersucht. Sie erscheinen heute noch einmal auf deutsch in dem französisch geschriebene Buch „Die Wohlgesinnten“ von Jonathan Littell, dem fiktiven Lebensbericht des Obersturmbannführers Max Aue, eines homosexuellen Intellektuellen mit künstlerischen Anlagen, eines gefährdeten Außenseiters. Der jüdische Autor hat sich einen „Doppelgänger“ geschaffen, der nicht zögern würde, ihn grausam zu vernichten.
Punk
Oehlen
1984 malte Albert Oehlen (* 1954) nach einigen Vorstudien (wie “Der Chef (grüßend)”) einen frontalen Kopf in engem Ausschnitt 140 x 140 cm groß mit summarischem Duktus, der deutlich der des „Führers“ ist, obwohl das Gesicht rot und die Haare kräftig orange leuchten; ein Kopf auf einem kräftigen Hals mit entschlossenem Blick; eine überlebensgroße „Ikone“ (Abbildung) (18). Das Bild und seine Varianten wurden häufig gezeigt und erregten in Deutschland, England und Amerika Aufsehen. „ Oehlen´s portrait of Hitler is about as subtle as a hand grenade….” kommentierte Hamza Walker 1995 in Chicago, und Michael Corris in London schrieb 2006: “This is Oehlen´s debt to the punkish cauldron of 70s anarchism”(19).
Diese Bemerkung erinnert daran, dass Albert Oehlen, sein Bruder Markus und seine Freunde Werner Büttner und Martin Kippenberger sich damals in einem Milieu deutscher Jugendkultur bewegten, das von der Musik des Punk und der „Neuen Deutschen Welle“ beherrscht war. Kippenberger malte 1984 „H.H.I.F. (Heil Hitler Ihr Fetischisten)“, die Brüder Oehlen spielten in verschiedenen Bands – Red Crayola, Jailhouse, Van Oehlen.
1981 hatte die Gruppe DAF /Deutsch-amerikanische Freundschaft) mit dem Mussolini-Song Aufsehen erregt:
„Geh in die Knie und klatsch in die Hände,/ beweg deine Hüften und tanz den Mussolini./ Dreh dich nach rechts und klatsch in die Hände/ und mach den Adolf Hitler und jetzt den Mussolini./Beweg deinen Hintern und klatsch in die Hände,/ tanz den Jesus Christus./ Geh in die Knie und dreh dich nach rechts und dreh dich nach links/ und tanz den Mussolini und jetzt den Jesus Christus./ Klatsch in die Hände und tanz den Kommunismus.“
„Get up. shake your hips. clap your hands. and dance the Mussolini. dance the Adolf Hitler. move your ass. and dance the Jesus Christ.”
Der Sänger der Gruppe, Gabi Delgado-Lopez, verteidigte sich damals: “ I don't believe in anything, so I'm free to play with anything I want. We take all that we want and play with it…Ich finde diese ganzen Vokabeln entmystifizierend, weil wir Wörter in einen lächerlichen Disco-Zusammenhang gebracht haben, die auf unterschiedliche Weise heilig sind“(20).
Reizworte wie „Blitzkrieg“ und „SS Hitler“ tauchten schon im Londoner Punk auf, in der „Neuen Deutschen Welle“ nennen sich Gruppen „Adolf und Eva“ oder „Die Hitlers“. Die Namen erscheinen als gesteigerte Provokationen in einem Milieu, das von nihilistischen no-future-Stimmungen durchwachsen ist, aber der beißende Sarkasmus, der sie trägt, bewegt sich an einer spielerischen Oberfläche. „Wer wusste, dass es Spiel war, hatte einen Vorsprung gegenüber denen, die es ernst nahmen….“ (21).
In seiner Untersuchung über „Jugendkulturen und NS-Vergangenheit“ warnt Martin Kersten:
„Wenn tabuisierte Reizwörter dieser Art tatsächlich eine Faszination ausüben, dann verlieren sie ihre faschistische Konnotation auch nicht, wenn sie nach Art des zitierten Textes respektlos gebraucht werden.“ Und er fügt aus dem Bereich der Bilder und Zeichen ein Beispiel an: „1982 hatte Rosemarie Trockel ihren Hakenkreuz-Pullover kreiert. Zehn Jahre später trug ihn Torsten Lemmer bei einer Talkshow des NDR. Lemmer, eine umtriebige Figur aus der jungen rechtsextremen Szene, war zu diesem Zeitpunkt Manager der Nazi-Rockband Störkraft…“
Können wir von einer ironischen Überlegenheit ausgehen, in der der Autor bewusst das Zeichen, das er gestaltet, sinnentleert? Ist das die Travestie, die Michael Corris meint, wenn er schreibt: „The problem that seems to me to haunt Oehlen´s work is how to master and control the travesty that painting today must be if it is to avoid descending into reaction or irrelevance“(22). Martin Prinzhorn nennt die Haltung des Künstlers “höhnisch”: „Was in seinem Sinn erst gute Kunst bei einem Werk ausmacht, ist die Möglichkeit, dieses, nachdem es von einer Seite in Beschlag genommen worden ist, sofort höhnisch der anderen (gegenteiligen) Seite zuordnen zu können“(23). Roger Behrens verurteilt solche Versuche, einen belasteten Inhalt aufzuheben: „. Das ist geschichtsblind, zumindest gedankenlos für die gegenwärtige Situation der Kunst, die keinen Halt mehr in politischen Bewegungen findet….Die einzige Provokation, die Oehlen erreicht, ist die, dass er sich selbst ins Fahrwasser des Nazismus begibt, weil seine kritik- und distanzlose Darstellung Hitlers keine Eindeutigkeit zulässt…..“ (24)
Die Größe des Gemäldes und der Ort seiner Öffentlichkeit bestimmen das Gespräch über seine Wirkung. Die Größe, die Blähung des Abbildes könnten die Hoffnung zulassen, dass ein Motiv durch einen Akt „offener“, lebhafter, sich selbst reflektierender Malerei bewältigt, beseitigt wird, wäre da nicht der öffentliche Ort, in dem das Abbild eine überwältigende Bekanntheit hat. Selbst dort, wo das Abbild weitergehend verunklärt in eine malerische Komposition einbezogen ist wie in Ulrich Baehrs Gemälde „Sportpalast“ von 1966, bleibt das Skandalon deutlich sichtbar (Abbildung) (25)..
Die Größe des Gemäldes und die Vorstellung, der Autor stünde einsam im Atelier vor seinem Werk, erlauben am Ende, sich einen Dialog vorzustellen, der die Grenzen eines Gesprächs über Malerei durchbricht.
Dali
Das Bild eines Zeitgenossen des „Dritten Reiches“, „El Enigma de Hitler“ von Salvador Dali (* 1904) in Madrid zeigt, wie klein das Hitlerzitat sein kann, ohne seine Herrschaft über ein Gemälde zu verlieren: ein abgerissenes Porträtfoto in der Art jener, die in den Wohnzimmern meiner Kindheit hingen, nicht viel größer als die paar weißen Bohnen auf dem Teller unter dem geborstenen Telefonhörer, aus dem eine Träne tropft (ein Kommentar Dalis zum Münchener Abkommen des gleichen Jahres 1938) (Abbildung).
Dali hat genossen, die Pariser Gruppe der Surrealisten mit seiner Neigung zu Hitler zu provozieren. Dabei kann er nie politisch sein, sondern äußert sich „paranoisch“:
„Ich war fasziniert von Hitlers weichem und fleischigem Rücken, der immer so prall in seine Uniform geschnürt war. So oft ich begann, den Lederriemen zu malen, der sich von seinem Gürtel schräg über die Schulter zog, versetzte die Weichheit ... mich in eine schmackhafte, nahrhafte und wagnerianische Ekstase, die mein Herz heftig schlagen ließ, eine sehr seltene Erregung, die ich nicht einmal beim Liebesakt empfand“ (26).
Das Verhältnis Jonathan Meeses zu Hitler ist, im Gegensatz zu Dali, nicht das eines Liebhabers, sondern das eines Sohnes.
Meese
In seiner großen Ausstellung in den Hamburger Deichtorhallen 2006 zeigte Meese (*1971) die Installation „MOR“ (MUTTER), eine rosa Burg, die er mit TAL R konzipiert hat.. Zwischen den Beinen eines Liegenden (einer bekleideten und bemalten Puppe) klebt auf dem Sockel das Foto des Kopfes von Hitler (Abbildungen) (27). Er trägt auf der Stirn die gemalten Buchstaben ICH.
Meese erregt seit 1998 als Performer Aufsehen, er häuft aufgesammelte Worte und Bilder zu “Kaskaden” und “Gebirgen”, er feiert zahlreiche “Helden” wie Stalin, Pol Pot, Mussolini, Caligula, Echnaton und Hagen von Tronje, “Conan – der Barbar” ( im Film mit Arnold Schwarzenegger), „Mad Max“ und Zardoz, den Sciencefiction-Helden in John Boormans Film („Die Waffe ist gut, der Penis ist schlecht! Der Penis schießt Samen und macht neues Leben, um die Erde mit der Seuche Mensch zu vergiften!“ sagt Zardoz, der steinerne Gott.) Er „betet sie an“. Er nennt Hitler seinen Vater, bekennt seine verzweifelte Hilflosigkeit als Künstler in dieser Welt, wünscht sich, ein Hitler für die Kunst zu sein, er würde der Kunst jene revolutionäre Kraft verleihen, mit der sie die Zivilisation verändern könnte.
Meese hat in seinen Performances so häufig den Hitlergruß benutzt, dass das Publikum rebellierte, als er ihn in einer seiner letzten verweigerte. In einem Interview wurde er gefragt: “Wenn du auf der Bühne den Nazigruß bis zur Erlahmung zelebrierst, ist das bloß hohle Form, vorgeführte Bedeutungslosigkeit durch Übersättigung, oder die Suche nach der Überwindung des Oberflächenreizes?“ und er antwortete: „Es hat mit sehr vielem davon zu tun. Und es ist auch Hilflosigkeit. Was soll man denn sonst bringen? Ich bin ja gerne bereit, eine andere Geste zu machen, ich frage mich auch, was noch kommen soll. Muss ich auf der Bühne masturbieren?”(28). Warum nicht? fragt der Kunsthistoriker, der sexuelle Aktionen in Happenings von Otto Mühl und anderen in den sechziger Jahren des 20. Jh. erlebt hat. Die Müdigkeit des späten Surrealisten, der sich Dalis Methode der „kritischen Paranoia“ bedient, um seine künstlerischen Psychosen zu erreichen, bricht sich in dadaistischen Satzschöpfungen wie „Dr. NOs Diamantenplantage, des Phantommönchs Prärieerzhall, nahe den wässrigen Goldfeldern des Dr. Sau, dabei die Dschungelhaut über die Zahnspange des erntefrischen Geilmädchens „Saint Just“ oder „Fräulein Overkill´s Tanzboden, rattenscharf, klarmachen,( Das hermetische Duell, der Nugget-Jim de Gong und Dr. Billy the Kidaddy am Eagle-Tail von Sherif´Marschall-Dirn (nah´dem Spinnentea.Forest Mammutus 1912)“. Sie schließt jene durchaus unpolitische, aber zutiefst faschistische Sympathie zu Diktatoren, zu „Weltherrschern“ ein, die schon Dali bekannte.
Der Schatten
Van Lieshout
2006 produzierte der niederländische Künstler Erik van Lieshout (* 1968) für die Berliner Biennale das Video “Rotterdam – Rostock”, in dem er eine Fahrrad-Reise dokumentiert, während der er unter anderen einige arbeitslose jugendliche Neonazis kennen lernte und gegen Honorare filmte (Abbildung) (29). Sie bestätigten ihm einige Bemerkungen, die der französische Philosoph Michel Foucault 1980 in einer Besprechung des Hitler-Films von Syberberg über die Deutschen nach dem Faschismus machte. Was würde sie auszeichnen? “Eine gewisse Eindringlichkeit der Niedertracht, ein gewisses Schillern des Mittelmaßes”(30). Lieshout verkürzt diese Behauptung in ein zeitgenössisches pauschales internationales Vorurteil: „Im tiefsten Innern wissen sie (die Deutschen) doch ganz genau, dass sie was Besseres sind. Tief drin sieht es in diesen Leuten übel aus“ (31). In seinen Ausstellungen zeigt er zu dem Video bezeichnete Postkarten des Hitlerhauses auf dem Obersalzberg und kräftige Kohlezeichnungen, unter ihnen auch solche mit Köpfen, die an Hitlerporträts erinnern und mit Ali H. gezeichnet sind. Sie reflektieren eine Neonazi-Szene in Deutschland gleichsam dokumentierend. In einer der Postkarten aus dem Berchtesgadener Land notiert van Lieshout Ideen zu einem Titel für den Film: „Dokument“, „Schmetterlinge“, „Ghostrider“, „Hotel Hitler“, „Ali H.“. Die Zeichnung des Ali H. könnte das Porträt eines Türken sein, das Abbild des A.H. sein Schatten.
Ich habe meinem Vater nicht nur vorgeworfen, das Foto Hitlers den Engländern übergeben zu haben, sondern seine „Entnazifizierung“, seine „Bewältigung“ des Dritten Reiches abschätzig beobachtet. Sein fremdgeleitetes Nationalbewusstsein, sein Fremdenhass haben mich geistig aus Deutschland vertrieben. So gehöre ich zu den Generationen, die das kollektive Trauma des Dritten Reiches nicht erlitten und eine Erinnerungskultur entwickelt haben, in der das Bewältigen, das Überwinden andere Formen angenommen hat. „In meiner eigenen Geschichte, im Familienbereich, war immer die Rede vom Krieg. Aber da wurde immer direkt erzählt. Mit meiner Arbeit wollte ich zunächst indirekt herangehen: all das gewöhnliche dieser Zeitungsbilder, diese Art von Banalität und das banale Feld um den Krieg herum.“ Diese Bemerkung des belgischen Malers Luc Tuymans (* 1958) habe ich sofort verstanden.
Tuymans
Tuymans zeigt in seinem Gemälde „De Wandeling“ (Der Spaziergang) 1993 die Rückenfiguren von zwei Männern im Vordergrund einer Landschaft (Abbildung) (32). Sie wandern aus einem Wald heraus auf einen See zu, hinter dem eine Bergkette beginnt. Eine starke Abendsonne strahlt ihnen entgegen, verwandelt ihre Körper in dunkle Umrisse, die lange Schatten werfen. Das Bild ist sanft gemalt, die Motive sind Traditionen folgend zueinander gefügt, es vermittelt eine friedliche abendliche Atmosphäre, wäre da nicht diese Silhouette, die an einen Militärmantel und eine Schirmmütze, an eine bestimmte Haltung erinnert. Man ahnt, dass das Bild Hitler mit einem Partner zeigt, der im Ungewissen bleibt. Man ahnt Unheil. Der Autor will und kann sich dem Unheil nicht weitergehend nähern. Das Unheil bleibt im Schatten, in der verklärten Berchtesgadener Landschaft, in der postkartenartigen banalen Schönheit des Bildes aufgehoben.
Bilder dieser Art mögen „ein Gefühl von dem Geschehen und dem Tatort vermitteln. Die menschliche Figur erscheint…als Puppe oder Zeichen….in sich selbst verschlossen, als ein Bild der Scham.“ (Tuymans, 33) Der Künstler spricht von „einer Art von Bildterror“ (34). Die Vorlage zu seinem Bild hat Albert Speer in seinen Spandauer Tagebüchern publiziert, ein Schwarz-Weiß-Foto, das er mit folgendem Text versehen hat:
„Es war einer jener unwirtlichen Obersalzberger Tage, in denen westliche Winde tief liegende Wolken von der oberbayerischen Ebene in das Tal trieben, die sich an den umliegenden Berghängen drängten und zu anhaltenden Schneefällen führten. Trotz der Mittagsstunde war es dunkel, aber wenigstens das Schneegestöber hatte aufgehört. Wir gingen den frisch geräumten Weg hinunter. Rechts und links niedrige Schneewälle, im Hintergrund der Untersberg. Die Wolken hatten sich aufgelöst, die Sonne stand bereits niedrig und warf lange Schatten, und der Schäferhund rannte bellend durch den Schnee. Ein alter, eigentlich schon geschlagener Mann ging im Schnee und presste ohnmächtig seine ganze Verbitterung und seine vergifteten Ressentiments aus sich heraus“(35).
Tuymans hat die Strategie des Bildterrors häufig angewendet, indem er ebenso wie Fotografien Hitlers solche von Heydrich, Himmler oder Speer verwendete.
Borofsky
1993 inszenierte Jonathan Borofsky (* 1942) in der New Yorker Paula Cooper Galerie die Ausstellung „String of Consciousness # 3“ über das Thema „Both the Fascist and the Idealist Search for Perfection“. Die Einladungskarte zeigt in Farbfotos gegenüber gestellt Porträts des „Führers“ (mit Schirmmütze, Regenmantel über Anzug mit weißem Hemd und Krawatte) und des Künstlers (in blauem T-Shirt vor Magnolienstrauch) (Abbildung). In einem Interview sagte Borofsky: „…..I was born into the world in 1942 – at the moment of Hitler´s prime. Hitler was an early model for me to study. Even as a child, I tried to understand why somebody like this existed. I was fascinated by the concept of concentration camps and why this happened”(36).
Die Überschrift “Both the Fascist and the Idealist search for perfection” ist mehrfach über die Wände der Ausstellung gemalt; in großen Fotos darunter Hitler (der Faschist) und Borofsky (der Idealist) als Denker; acht weitere Fotos der beiden als Babies, ihrer Eltern, sie mit ihren Hunden etc., eine Spirale aus fluoreszierenden Plastikbechern am Boden, andere Objekte, zwei Pastellzeichnungen riesiger Köpfe von der Decke zum Boden; Zeichnungen und Aquarelle neben Reproduktionen von Zeichnungen und Aquarellen von Hitler als Maler.
(Die Gegenüberstellung Faschismus – Idealismus irritiert, denn gerade die Faschisten betrachteten sich als Idealisten und ihre Kunst – im Gegensatz zu der realistischen des Kommunismus – als idealistisch.)
In der Ausstellung zeigte Borofsky elf Musikvideos von „Johnnie Hitler“. Fotos von Hitler, Szenen aus Konzentrationslagern scheinen darin auf, aber auch ein Raumschiff, ein verhungerndes Kind in Somalia, ein Mann in einem Rollstuhl….Reagan Upshaw fragte in einer Ausstellungsbesprechung: „What does Borofsky seek to achieve by connecting himself in such cryptic fashion to a failed art student who went on to organize unprecedented mass murder? Is it simply to warn against the „inner Fascist” in each of us?”(37).
1985/86 arbeitete Borofsky mit Gary Glassman an dem Film “Prisoners” Er hatte mit 32 weiblichen und männlichen Strafgefangenen in kalifornischen Gefängnissen Interviews geführt und beginnt seinen Film mit den Worten: “Why did I got to talk to prisoners? Well, we are all learning to be free. Butt here are people who make our lives a lot less free…. Could they have been born criminals? What can I learn from these people? What does it mean to be free?”
Borofsky schildert, wie er nach dieser Erfahrung mit der “dark side” in anderen beginnt, über die “dark side” in ihm selbst nachzudenken. „It was a logical jump from prison – going out into the world and studying folks that had done damage to people, picking the ultimate damage-doer of the 20th century, looking for issues within myself that might be parallel. Anger that I might be feeling, fear that I might be feeling, the need to control (and that´s the big one) that I might be feeling in my own life, that each person feels in their life. When do you feel powerless? When do you need to lash out? When do you need to control another human being? When do we need to control women? It was just a period of study, trying to get into his mind and to understand.”
1992 veröffentlicht er 12 Musikstücke „Music written and performed by Jonnie Hitler“. In www.ubu.com sind sie aufgeführt und zu hören: „Dreamer´s nightmare“ „I will kill him“ „The hunter and the hunted“ „Life/ Force“ „Somalia“ „Speed of Light“ sind einige der Titel. Unter der Danksagung an John Cage, Public Enemy, Johann Sebastian Bach, The Sex Pistols, Karl Heinz Stockhausen und viele andere steht der Satz: „There is a little bit of Hitler in all of us.“
Diese Musik läuft rückwärts. Rückwärts hat Borofsky eigene Musikkonserven noch einmal aufgenommen, um etwas zu erreichen, das ihn an Musik Afrikas oder des Mittleren Ostens erinnerte. Jonnie Hitler zielt auf eine Art von Hypnose, die durch Gebete und Gesänge, durch Buschtrommeln, aber auch, wie Syberberg in seinem Film vorführt, durch den Gleichschritt von paradierenden Soldaten, durch Trauermärsche und Sprechchöre hervorgerufen werden kann.
There is still a little bit of Hitler in all of us
„Der Faschismus ist nicht nur ein gestriges Ereignis. Er ist immer noch da…Es ging mir darum, anzuregen, einen Ausgangspunkt vorzuschlagen, von dem aus wir anfangen können zu verstehen, warum die Faschisten wieder unter uns sind. Nicht die Alten, die Nostalgiker, die man als Karikaturen bezeichnen könnte, sondern die neuen, die jungen Antidemokraten meiner Generation.“
Liliana Cavani zu ihrem Film „Nachtportier“: (112-113)
Die Ausstellung der Hitlerfigur von Maurizio Cattelan in dem Zentrum für zeitgenössische Kunst und Architektur „Faergfabriken“ in Stockholm zeigte die kleine Skulptur allein im lichtdurchfluteten Raum einer Fabrikhalle – allein gelassen, geschrumpft, jeder Herrschaftsgeste beraubt. Geistert so das Bild Hitlers durch jenen Zeitgeist, den bildende Künstler erfassen? Die ausgebrannte Hülse eines gefährlichen Projektils? Oder lässt dieser Zeitgeist Jonathan Meese rasen, der nicht vermag, sich von jener Vaterfigur und ihren Brüdern in der Vorhölle zu lösen? Machen es sich der Jude, der Hitler in die „Misfits“ einreiht, und der Russe, der ihn in Tschechows Isolierzelle verbannt, zu leicht? Kann eine Indifferenz, die ihre Grenze abzustecken sucht, über sie hinausschießen – wie in jener „Ikone“ des Albert Oehlen? Das Bild Hitlers erzeugt ständig eine Vielfalt an Facetten. Es transportiert Werte, es schwärt, und es erneuert sich. Werte?
Theweleit hat jene Tugenden aufgezählt, die sich dem Faschismus als Lebenshaltung zuordnen lassen - Liebe zur „Heimat“, zum „Vaterland“, zur „Truppe“ und ihrer „Uniform“, zur kämpferischen Auseinandersetzung, zur Jagd, zu Waffen, zu Tieren –, und Sontag ergänzt und steigert vor den Werken der Leni Riefenstahl die Komponente des prähistorischen Jägers, des „edlen Wilden“: physische Vollkommenheit, Keuschheit als Bewahrung der Lebenskraft, Fetischismus des Mutes, Überwindung der Entfremdung in exstatischem Gemeinschaftsgefühl, Triumph des Willens“, „Sieg des Glaubens“
Und er hat eine gemeinsame Sprache zu analysieren versucht, die er „imperialistisch“ nennt, die der „Wirklichkeitsvernichtung“ dient. Er geht weiter:
„Wenn man akzeptiert, dass es eine „faschistische“ Art und Weise gibt, die Realität zu produzieren und diese dabei als eine …entstellte Form der Wunschproduktion ansieht, dann muss man auch akzeptieren, dass der Faschismus keine Frage der Staatsform ist…überhaupt nicht eine Frage eines Systems. Dann ist eine Auseinandersetzung mit dem Faschismus auch nicht bloß seiner schrecklichen politischen Auswirkungen wegen nötig. Nicht, weil so viele Menschen ihm zum Opfer fielen, nicht, weil er dem Sieg des Sozialismus im Weg steht, nicht, weil er ja „wiederkommen“ könnte ist es dann primär notwendig den Faschismus zu verstehen und zu bekämpfen, sondern vielmehr weil er dann als ständig präsente oder mögliche Form der Produktion des Realen unter bestimmten Bedingungen auch unsere Produktion sein kann und ist“ (39).
Borofsky führt diese Analyse selbstbezogen in die Dialektik ein, in der er die „Gefangenen“ und die „Freien“, die „Faschisten“ und die „Idealisten“ zu definieren versucht. Vor dem Hintergrund jener Monumentalbauten, die Hitler und Speer planten, erscheint das Gefängnis von St. Quentin wie eine jener „Trutzburgen“, in denen sich die, die der Freiheit zu leben beraubt sind, die sich gegen das Leben stellen, die „Antimodernen“, die seiner verwirrenden Vielfalt nicht Herr werden können, sich vor ihr verbergen. Er greift Kiefers Argument der Einfühlung, der Affirmation auf, um faschistische Züge in sich selbst zu entdecken. Der theatralischen Handlung, in der jener in Kauf nimmt, sich aus der Glaubwürdigkeit zu entfernen, setzt er aber, diszipliniert durch seinen Umgang mit den Gefangenen, eine Haltung entgegen, die nicht in den Wunsch mündet, ein Faschist zu sein, sondern in der Frage: Bin ich ein Faschist?
Aachen 2008-03-04
Wolfgang Richter, Kulturchef der Aachener Volkszeitung, war im Juli 1973 mutig genug, den jungen Leiter der Neuen Galerie – Sammlung Ludwig einzuladen, von nun an jede Woche einen Artikel über moderne Kunst zu schreiben, der mit dem Titel KUNST ABC in den Samstagsausgaben erscheinen sollte. Wenn das Aachener Publikum ein experimentelles Ausstellungshaus dieser Art 3 Jahre lang ertragen hätte, so verdiente es jetzt Antworten auf viele Fragen, Aufklärung und Bildung in einem Sektor seines Lebens, die ihm Schullehrer schuldig geblieben sind. Ich selbst war an Diskussionen in deutschen Kulturverwaltungen über eine mangelnde Vermittlung in Museen beteiligt; das Fach der Museumspädagogik entstand. Das Angebot, ein KUNST-ABC über eine regionale Zeitung zu verbreiten, motivierte mich, jede Woche einen neuen Text zu erfinden. Es wurden 173. Das KUNST-ABC endete am 26.2.1977. Die Bibliothekarin des Ludwig Forums hat die alten Manuskripte im Archiv ausgegraben, sortiert, nummeriert und mir zu Weihnachten 2018 geschenkt. Ein kostbares Geschenk. Danke.
Dass eine Zeitung sich auf dieses Wagnis einlässt, verrät eine Stimmungslage und einen Stellenwert der Kunst in der öffentlichen Meinung, die unwiederholbar erscheinen. 173 Beiträge zu Minimal Art, Konzeptkunst, Pornografie, Zufall, Accumulation, Nazi-Kunst, Psychedelische Kunst, Mao Tse Tung, Schizophrenie, Japonismus, Bauhaus, Sigmund Freud, Russische Kunst, DDR- und Israelische Kunst mussten so viel Interesse wecken, dass Leser sie jeden Samstag suchen würden (Vielleicht hat sich doch der eine oder andere beschwert.). Und sie steigerten die Neugier auf das kuriose Museum in der Komphausbadstraße, in dem das Kaleidoskop der postmodernen Bilderwelt sich nach allen Seiten ausbreitete. – und die Studenten und die Jazz- und Rockgruppen ein neues Zuhause gefunden hatten.
Das digitale Zeitalter hatte noch nicht alle erfasst. Ich schrieb die Artikel des KUNST_ABC auf Papier und brachte sie jeden Montag in die Redaktion. Wer einen Kulturkalender suchte, war auf die Lokalzeitungen angewiesen. Sie waren wichtig. Heute stehen sie am Rand der digitalen Netzwerke. Bis 2018 hat mir ein Bote die Zeitung in den Briefkasten geworfen, nun lese ich die Aachener Zeitung auf meinem Bildschirm. Wo immer ein KUNST-ABC Menschen heute belästigen würde, vielen, die nach dem Sinn ihres Lebens fragen, würde es nützlich sein.
Ich habe eine Auswahl von 100 dieser Artikel im Frühjahr 2019 in meinem Blog in wordpress veröffentlicht. beckeraachen.blog. Im Wienand-Verlag Köln soll 2020 zum Jubiläum 50 Jahre Neue Galerie + Ludwig Forum ein Buch erscheinen.
Weil ich mich kürzlich zur KUNST geäußert habe, macht es mir Spaß, mit dem Artikel zu beginnen, der auch am Anfang der Serie 1973 stand: WAS IST KUNST? Ich versuche, die alten Maschinen-Manuskripte zu konvertieren.
Die Fragen: Was ist Kunst? und: "Ist das Kunst? " wurden immer vorzugsweise von Werken der Bildenden Kunst provoziert . Fast nie haben diese Fragen, gestellt an Werke der Literatur, Musik und Architektur solchen Öffentlichkeitsgrad erreicht. Entweder ist ihr Öffentlichkeitscharakter geringer oder aber die Grenzen zwischen dem, was Kunst und dem, was nicht Kunst ist, sind in Literatur und Musik nicht fest zu bezeichnen. Dennoch: man stößt auf geringeren Widerstand, behauptet man den Kunstwert eines bestimmten Zeitungstextes ebenso wie den einer Karikatur oder eines comic-strips, als wenn man fordert, eine scheinbar sinnlose Kombination von Buchstaben möge als Poesie oder eine Leinwand, auf der nichts als graue Farbe zu sehen ist , möge als ein Werk der bildenden Kunst angesehen werden.\ Die Frage: "Ist das noch Kunst?" setzt voraus, dass der Fragende annimmt zu wissen. was Kunst sei. Seine Vorstellung was Kunst ist, ist abhängig von Kindheitserfahrungen, den Vorstellungen seiner Eltern und Lehrer, Kunsterfahrungen seiner Jugend, und zugleich aber ist für ihn Kunst ein Wunschbild von Schönheit und Harmonie, aus dem er alles abzieht, was sein persönliches Leben belastet.
Dieses Wunschbild verfolgt er mit der Begierde des Liebhabers: er will es besitzen. Die Bilder an den Wänden seiner Wohnung, sein "Zimmerschmuck " widerspiegeln das Wunschbild im Verhältnis zu seinen Mitteln. Auf der anderen Seite ist die Frage "Ist das noch Kunst?" Äußerung eines Verdachts. Dass nämlich eine kleine Verschwörung von Künstlern und ihren Helfershelfern einer breiten Bevölkerung Dinge als Kunst vorführe, die gar keine Kunst sind, sie zum Narren halte, sie täusche. Dieses Misstrauen ist ein bürgerliches Regulativ der Autoritätsgläubigkeit. Es gilt nicht nur für Kunst, sondern ebenso für Politik und andere Tätigkeiten, die wenige Delegierte für viele Delegierende tun. Ohne dieses Regulativ ist eine Meinungsbildung über das, was Kunst ist, nicht möglich, zwischen der kleinen Schar derer, die beruflich oder aus Liebhaberei mit Kunst befasst sind, und der breiten Bevölkerung, die der Kunst in Museen, Ausstellungsinstituten und Galerien begegnet. Was Kunst und was nicht Kunst sei, beruht also auf einer Übereinkunft; und zeitweilig ist die Übereinkunft von ebenso großem Erkenntniswert wie das Objekt, das sie veranlasst hat. Denn in der Übereinkunft widerspiegelt sich ein bestimmtes Lebensgefühl, das sich diesen oder jenen Gegenstand als Ausdruck wählt. In der Ägyptischen und Griechischen Antike ebenso wie im Europäischen Mittelalter war der bildende Künstler ein Handwerker unter anderen. Auf der Stufenleiter bürgerlicher Anerkennung stand er an unterster Stelle. Seine Werke waren eingeordnet in ein anschauliches religiöses Weltbild, in dem sie nur der Verschönerung, der Illustration, der Nachahmung von etwas bereits Vorhandenem dienten: In der Römischen Antike um Christi Geburt und in der Italienischen¬ Renaissance des 15. Jahrhunderts tritt zum ersten Mal der Künstler als Genie, als überragende Persönlichkeit hervor, der es gelingt, die Natur- und Geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit in ein bedeutendes Kunstwerk zu binden. Unter neuen religiösen Einflüssen im 16. Jahrhundert wird der Künstler zum Seher, zum Propheten. Je mehr sich die Kunst aus ihren gesellschaftlichen und religiösen Bindungen löste, als autonome, nur eigenen Gesetzen gehorchende Beschäftigung des menschlichen Geistes entwickelte, umso stärker distanzierte sich auch der Künstler von der bürgerlichen Gesellschaft, die ihn umgab. Die zunehmende Vergesellschaftung hat ihn bis heute in die Rolle einer Außenseiterposition gedrängt, in der er Funktionen des Wunschbildes eines frei sich entfaltenden Individuums übernimmt. In diese Freiheit entlassen schafft er sein Werk, unabhängig von gesellschaftlichen Zwängen, fordert andererseits, dass dem Werk gesellschaftliche Bedeutung zugesprochen wird. Um dieser Situation zu entfliehen, haben Künstler seit der Mitte des 19. Jahrhunderts versucht, sich mit gesellschaftlichen, politischen Minderheiten zu verbinden und ihre Werke in deren Dienst zu stellen. Der Bohemien des 19. Jahrhunderts war auf dem Sektor der Kunst, was auf dem Sektor der Politik der Anarchist war. Die gesellschaftliche Integration des Künstlers wird heute mehr denn je diskutiert, ist aber mit Freiheitsbeschränkungen verbunden, die der Künstler, an seine Rolle gewöhnt, ungerne in Kauf nimmt. Sie wird unser Verständnis dessen, was Kunst ist, grundlegend verändern. Gehen wir davon aus, dass Kunst alles ist, was wir nicht anders benennen können, dass andererseits der Künstler für uns in einem relativen Freiheitsraum das Lebensgefühl und Selbstverständnis der Gesellschaft in der er lebt, verbildlichen kann, so wird die Distanz, die er sich von gesellschaftlichen Zwängen schafft, als Erkenntniswert wichtig. Aus dieser Distanz widerspiegelt er die Gesellschaft, in seinem Spiegel können wir uns erkennen. Sein Werk ist unser Arbeits- und Studienmaterial, das uns hilft, als Individuum und als Gruppe nicht in Zwängen zu erstarren, die uns durch Gewohnheit, Herrschaft, verborgene Manipulatoren auferlegt werden. Die Distanz schafft andererseits eine Schwierigkeit des Verstehens. Die Schwierigkeit des Verstehens wird aufgehoben durch Gewohnheiten. Wer gewohnt ist, mit zeitgenössischer Kunst umzugehen, hat größere Möglichkeiten, jedes neu entstehende Kunstwerk zu begreifen, als der, dessen Kunstverständnis von der vorhergegangenen Generation geprägt ist. Dieser ist je nach seiner Vorbildung heute fähig, sich persönlich einem Werk des Impressionismus oder gar von Picasso zu stellen. Wer aber das zeitgenössische Werk bildender Kunst als einen Beitrag zum sozialen Selbstverständnis in einer arbeitsteiligen Gesellschaft begreift, wird nicht mehr nötig haben zu fragen, ob es Kunst sei, sondern sich mit ihm befassen können ais einer sensiblen Äußerung menschlichen Geistes, die heute ihren aktuellen Gesprächspartner, übermorgen erst ihren Historiker und Bewerter sucht.
Aus meinem K U N S T A B C in der Aachener Volkszeitung 1973
Solche Künstler sind vielen bekannt, die viele zu verstehen oder viele nicht zu verstehen glauben. Jene sind die "Dekorateure", diese die "Narren" der Kultur. In den Narren projiziert das Bürgertum seine Wünsche, "anders" zu sein, in der vollkommenen Freiheit individueller Existenz die menschliche Fantasie in alle Bereiche von Sinn und Unsinn, Ordnung und Chaos strömen zu lassen. Der Narr als Wunschbild, wie wir ihn seit Shakespeare kennen, betätigt sich in allen Bereichen, er kann nicht Künstler, Wissenschaftler, Politiker, Theologe sein, er ist auch Künstler, Wissenschaftler, Politiker, Theologe. Und er lehrt Kunst, Wissenschaft, Politik, Theologie usw. - auf seine Weise.
Der Düsseldorfer Akademie-Professor Joseph Beuys, den die Kunsthistoriker für den bedeutendsten deutschen Künstler der Jahrhundertmitte halten, ist dieser "Narr". Er ist weder Maler noch Bildhauer, nennt sich allenfalls Plastiker im französischen Sinn des Wortes "plasticien": Bildner. So ist ihm alles Plastik: der Mensch, die Gesellschaft: Strukturen, die andauernder bildnerischer Arbeit bedürfen. Mittel dieser bildnerischen Arbeit sind Kunst, Wissenschaft, Politik, Theologie. Also bedient er sich ihrer. Also sind sie nicht Selbstzweck. Also hat Beuys nie ein Kunstwerk um seiner selbst willen geschaffen. Also hat Beuys sein politisches Büro nicht um der Politik willen geschaffen. Seine Werke sind nur scheinbar Kunst, Politik, jenen zum Verwechseln ähnlich. Alle Werke, die Beuys hinterlässt, sind nichts als Spuren eines Durchgangs, eines Prozesses, in dem ein Mensch sich stellvertretend als "Plastik" bildet.
Der "Narr" liebt Rätsel und Mystifikationen. Man lese die selbstverfasste Biografie. Der "Narr" extrovertiert sich als Held und Märtyrer: als Beuys 1964 in der Aula der Aachener TH von einem Studenten ins Gesicht geschlagen wird, weil er ihm versehentlich Säure auf die Hose gegossen hatte, erhob er beschwörend die Arme über den blutenden Kopf - mit einem Kreuz in der Hand (das Foto findet sich heute in vielen Büchern). Ein weitverbreitetes Foto von 1972 zeigt ihn besenbewaffnet mit einer Gruppe von Anhängern: Beuys fegt den deutschen Wald. Solche Gesten erscheinen spontan und überlegt zugleich. Immer schaffen sie Bilder, die zeichenhaft eine gesellschaftliche Situation fixieren. Wer anders als der vielbeachtete Künstler Beuys konnte sich bereitfinden, den deutschen Wald zu fegen, als die Umweltverschmutzung auch dort sichtbar wurde, wo für uns regiert wird? Und immer wird nicht das Kunstwerk für sich, sondern der Autor in seiner Rolle als Außenseiter für gesellschaftliche Zwecke eingesetzt.
Die Werke von Beuys sind also eigentlich nicht seine hochgehandelten Objekte, sondern seine "Auftritte". Als "aufführender" Künstler ist er einer der wichtigsten Vertreter der Happening- und fluxus-Bewegung der 50er und 60er Jahre. Man muss die Partituren und Beschreibungen dieser Auftritte studieren, um Beuys zu verstehen. Wer aber die Spuren, die er hinterlassen hat, in ihrer ganzen Fülle auf sich wirken lassen will, wird sie in der Sammlung Ströher des Darmstädter Landesmuseums einzigartig ausgebreitet finden. Das ist eine Suite von Raritätenkabinetten, in denen ein Mensch das abgelagert hat, was ihm als "Plastik" ins Auge fiel. Das ist zugleich ein Formenarsenal, aus dem eine Fülle Jüngerer bis heute schöpfen.
Ja, die berühmte Fettecke vergeht, die Margarine wird ranzig, das Stück beginnt gar zu stinken. Aber wie kann denn einer, der seine künstlerische Geltung nach seiner eigenen Lebensdauer misst, anders handeln, wenn er ein Bild der Vergänglichkeit, des Energie-Austausches schafft? Die Studentenpartei, das Organisationsbüro für Volksabstimmung in der Düsseldorfer Andreasstraße (Sie können Mitglied werden!), das politische Büro in der Kasseler documenta 1972, in denen ein neues Modell der Gewaltenteilung vorgeschlagen wird, - ja selbst der Kampf des Akademieprofessors mit dem Kultusministerium erscheinen jenen naiv, die sie politisch wörtlich nehmen. Ist aber der Autor dieser Werke ein Künstler, so sind sie Kunstwerke, stellvertretend und weisen über sich selbst hinaus.
Es gibt in unserem Land keinen "Narren", der weiser die Gemüter bewegt hat, aufmerken ließ und gesellschaftlichen Emanzipationsbemühungen gedient hat. Dafür nehmen wir die unzähligen jungen Beuyse, die uns heute belästigen, gerne in Kauf. Sie vergessen, dass solche Leistungen nicht nur an die Person, sondern an die bedeutende Künstlergeneration gebunden sind, die sich um 1960 zu Wort meldete.
Die social media teilen Zustandsbekenntnisse, Kommentare zu Tagesereignissen, Berichte von Erlebnissen, politische Pöbeleien und Berichte über Kunsterfahrungen mit. spontan, improvisiert, und verlieren schnell ihre Aktualität – wie die Tageszeitungen. Der „Trierische Volksfreund“ erschien1875 zuerst 3x wöchentlich, später täglich. Der „Rheinländische Hausfreund“, der Johann Peter Hebels Kalendergeschichten 1803-14 verbreitete, war dagegen ein Jahreskalender, der die Stunden-Aktualität der social media auf die Dauer von Jahren verlängerte. Nachrichten wurden Literatur.Diese Kalendergeschichten sind für Facebook, wordpress, linkedin und twitter geschrieben.
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