Ukraine

2004 bin ich mit Jonathan Safran Foer durch die Ukraine gereist – mit seinem Buch „Alles ist erleuchtet“ (2003). Anhand eines vergilbten Fotos suchte der jüdische Amerikaner mit mir nach Augustine, einer alten Frau, die, als die deutsche Armee 60 Jahre zuvor versuchte, alle ukrainischen Juden zu töten, seine Familie versteckt und versorgt hat. Alex und sein Großvater würden uns fahren. Wir trafen uns in Odessa. Unser Ziel war Trachimbrod. Jonathan wusste, dass ich kein Jude bin und dass mein Vater einer jener Armeeangehörigen war, die in Russland und der Ukraine unter den Einheimischen so gewütet hatten, dass sie später nicht mehr darüber sprechen wollten. Jetzt sind es nicht mehr die Deutschen, die in der Ukraine wüten, sondern die Russen. Und sie töten keine Juden, sondern Ukrainer. Mich verwirrt dieser Wechsel, und ich trete einem ukrainischen Flüchtling in Aachen nicht ohne Skrupel entgegen; er könnte mir den Satz entgegenschleudern: was die Russen jetzt mit uns tun, habt ihr vor 60 Jahren getan! Ich schäme mich für die Deutschen damals und die Russen heute gleichermaßen.

Jonathan und ich suchten nicht die Reste einer geplünderten jüdischen Kultur, sondern Spuren jener Frau, die mutig für seine Familie im Versteck gesorgt hatte. Wir hörten viele Geschichten von Verfolgungen, Morden, Scheiterhaufen und Massengräbern – und seltsame Erzählungen von Epiphanien, Ereignissen leuchtender Wunder, die uns erschütterten und mir noch heute vor den Augen stehen. Der Krieg der Russen und der Ukraine heute ist ein anderer, aber er enthält jenen Bodensatz der Erinnerungen, in dem der Nationalsozialismus der Vierzigerjahre am kräftigsten stinkt.  

Meinem Sohn habe ich das zweite Buch von Jonathan geschenkt, in dem er von der Schande berichtet, Fleisch zu essen.


U K R A N I A

2004 I traveled through the Ukrainia with Jonathan Safran Foer – with his book „Everything is illuminated“ (2003). A historic portrait photograph served the Jewish American to seek Augustine, an Ukranian woman who had hidden, protected and cared for his family in the time of the Nazi persecutions. The Ukranians Alex and his grandfather would bring us from Odessa to Trachimbrod. Jonathan knew that I was not a Jew and that my father had belonged to those military forces who prefered not to talk about the massacres which they had committed in Russia and Ukrainia. Now no Germans kill Jews, but Russians kill Ukranians. The change disturbs me. I fear meeting a Ukranian fugitive in Aachen who would shout at me: They do to us what you did 80 years ago! I am ashamed for the Germans of the 20th century and the Russians of today.

Jonathan was not so much interested to find spoils of the plundered Jewish cultural history but  traces of memories about this woman Augustina and other people who spoke about shelters, crimes,  mass murders  and told strange stories about epiphanies, heavenly lights and sounds, miracles which have remained in my memory until today.The war between the Russians and the Ukranians is quite different from the German invasion 80 years ago but contains still the foul smelling Nazi sediment  of the past.

My son reads now Jonathan´s book about the shame to eat meat.


Klischee und Antiklischee

1. Publikation der Neuen Galerie 1970

Stadt Aa­chen
Neue Ga­le­rie im Alten Kur­haus
1.
Kli­schee und An­ti­k­li­schee
Bild­for­men der Ge­gen­wart
Ausst.kat. Lose Blät­ter in DIN A 4-Mappe
Aa­chen, Fe­bru­ar 1970

Wolf­gang Be­cker
Kli­schee und An­ti­k­li­schee

Von einem Kli­schee wer­den Aber­tau­sen­de von Ab­bil­dun­gen in Zei­tun­gen, Zeit­schrif­ten, Bü­chern, auf Pla­ka­ten, Pro­spek­ten und Falt­blät­tern ge­druckt, die Mil­lio­nen Men­schen sehen. Das Kli­schee ist eine Er­fah­rung, die ihnen ge­mein­sam ist. Je häu­fi­ger eine Nach­richt wahr­ge­nom­men wird, umso tiefer dringt sie ein. Sie schafft glei­che Sack­gas­sen in den Denk­vor­gän­gen von Mil­lio­nen. Wenn eine Ge­sell­schaft nicht stark genug ist, Ge­gen­kräf­te zu ent­wi­ckeln, um das Feld der mensch­li­chen Mit­tei­lun­gen offen zu hal­ten, be­gin­nen ihre reiz­bars­ten Mit­glie­der zu re­bel­lie­ren. Die Künst­ler grei­fen re­gu­lie­rend ein. Die Ge­sell­schaft ver­steht, dass ihre Mit­hil­fe le­bens­wich­tig ist.

Als man die Kli­schee­her­stel­ler „Ge­hei­me Ver­füh­rer“ nann­te, ent­stand die pop art. Sie ent­larv­te, indem sie mit den Kli­schees zu spie­len be­gann, Di­stanz zu ihnen schuf, sie der Lä­cher­lich­keit preis­gab. Die Ver­füh­rer er­schie­nen plötz­lich nicht mehr ge­heim, ihr ma­ni­pu­lie­ren­des Spiel wurde durch­schau­bar. Pop Art stürz­te die Wer­be­in­dus­trie in eine Krise. Sie wurde un­glaub­haft, ihr Selbst­ver­ständ­nis ge­riet ins Wan­ken. Im Rück­blick zeigt sich, dass wir diese de­cou­vrie­ren­de, Ge­heim­nis­se lüf­ten­de Wir­kung viel stär­ker be­wer­tet haben als die künst­le­ri­sche Qua­li­tät der Be­we­gung. Was alles ist unter dem herr­lich ein­präg­sa­men Titel sub­sum­miert wor­den! Und wir hiel­ten Pop Art für die ame­ri­ka­ni­sche Ma­le­rei um 1960 schlecht­hin!

Heute ver­in­selt die Grup­pe um Andy War­hol, Tom Wes­sel­mann, Roy Lich­ten­stein, Ro­bert In­dia­na und Richard Ha­mil­ton zu­se­hends. Der Kreis wird enger und kom­pak­ter. Mel Ramos scheint uns nicht mehr da­zu­zu­ge­hö­ren. Wir stel­len ihn Wes­sel­mann ge­gen­über: dort Pop Art, hier „Neu­er Rea­lis­mus“? Wir hän­gen War­hol neben Gut­tu­so und Erro: dort der kalte Klas­si­ker (man ver­gleicht ihn mit Pous­sin), hier die en­ga­gier­ten Re­vo­lu­tio­näre.

Ihre künst­le­ri­sche Qua­li­tät haben wir un­ter­schätzt. Die Dru­cke­rei­en haben sich ihrer Werke be­mäch­tigt und präch­ti­ge Kli­schees ge­macht, die Be­klei­dungs­in­dus­trie nahm ihre Mo­ti­ve auf, Lich­ten­steins Ras­te­run­gen tauch­ten in An­zei­gen, Pla­ka­ten, auf Tex­ti­li­en, in Ba­de­zim­mern, auf Kaf­fee-Ser­vices auf, Pop Art wurde selbst zum Kli­schee.

Ei­ni­ge we­ni­ge haben sich nicht bluf­fen las­sen, haben die for­ma­len Qua­li­tä­ten die­ser Künst­ler be­tont – ei­ni­ge we­ni­ge wuss­ten, dass Pop Art nur e i n Phä­no­men der zeit­ge­nös­si­schen Ma­le­rei war, frei­lich ein ex­tre­mes, frei­lich ein im­mens po­pu­lä­res. Ganz un­po­pu­lär waren die Abstrak­ten, die zäh an ihren Farb­ta­feln la­bo­rier­ten. Sie schu­fen ein wich­ti­ges An­ti­k­li­schee.

Sie zei­gen nicht mehr die Selbst­be­spie­ge­lung, das sub­jek­ti­ve Be­kennt­nis, das bei ihren Vor­gän­gern eine wich­ti­ge Rolle spiel­te. Ob­jek­ti­vie­rung wird deut­lich in den Ver­fah­rens­wei­sen: geo­me­tri­sche Kon­struk­ti­on, Hand­schrift ver­nei­nen­der Acryl-An­strich, Farb­punk­tie­run­gen, Spray. Farbtheo­re­ti­sche Schau­bil­der wer­den ver­mie­den, syn­äs­the­ti­sche Lehr­sät­ze ver­hüllt. Das Be­trach­te­rer­leb­nis soll nicht ana­ly­tisch, son­dern syn­the­tisch sein. Bil­der ver­mit­teln nicht ra­tio­na­le Er­kennt­nis­se, , son­dern Stim­mun­gen, zie­len auf me­di­ta­ti­ve Ge­müts­zu­stän­de. Uto­pi­en wer­den pro­ji­ziert. Franz Wer­fel be­schrieb im „Stern der Un­ge­bo­re­nen“ ein Ha­bi­tat ohne Licht­quel­len, in dem Wände aus sich sel­ber leuch­ten, in dem nack­te Men­schen sich von Raum zu Raum mit einem an­de­ren Licht be­klei­den; eine „psy­che­de­li­sche“ Welt ohne Autos, Fern­se­hen, Re­kla­me – eine Anti-Pop-Welt. Die Bil­der die­ser Aus­s­tel­lung ( von Joe Baer, Lewis Stein, La­wrence Staf­ford und Peter Young) sind Äu­ße­run­gen die­ser neuen Uto­pie. Sie schil­dern uns einen Be­zirk ame­ri­ka­ni­schen Geis­tes­le­bens, der sich auf an­de­rer Ebene (vor allem in Ka­li­for­ni­en) in Hip­pie-Kul­tu­ren und re­li­gi­ösen Sek­tie­run­gen deut­lich macht. Diese junge Ge­ne­ra­ti­on, die Ken­neth No­land und Mor­ris Louis ver­ehrt, die im­pres­sio­nis­ti­schen See­ro­sen­bil­der von Monet be­wun­dert, ar­bei­te­te be­reits, als Pop Art durch Eu­ro­pa zog. Da­mals waren sie un­po­pu­lär, heute sind sie re­prä­sen­ta­tiv.

Ging Pop Art an jenen vor­bei, bezog sie al­len­falls von ihnen die künst­le­ri­sche Kon­trol­le, so war ihre ra­di­ka­len Wen­dung zur In­ter­pre­ta­ti­on mensch­li­cher, ge­sell­schaft­li­che, po­li­ti­scher Er­schei­nun­gen doch von sol­cher Schub­kraft, dass ein neuer Grup­pen­stil, den die Ame­ri­ka­ner „Neu­er Rea­lis­mus“ nen­nen, sich auf den Er­geb­nis­sen ihrer Ar­beit auf­bau­te. Neuen ge­sell­schaft­li­chen Ent­wick­lun­gen war Rech­nung zu tra­gen. Zeich­ne­te Rau­schen­berg das Auf­bruchs-Pa­thos der Ken­ne­dy-Ära, ana­ly­siert War­hol mit di­stan­zier­ter Kälte die Kli­schees einer uni­for­mier­ten op­ti­mis­ti­schen Wohl­stands­ge­sell­schaft – in der zwei­ten Hälf­te des Jahr­zehnts trat schmer­zend der Wi­der­spruch zwi­schen Mond­lan­dung und Vi­et­nam, Volks­bil­dung und Stu­den­ten­un­ru­hen, So­zia­lis­mus und Ras­sen­kra­wal­len in das künst­le­ri­sche Be­wusst­sein. Das En­ga­ge­ment ver­schärf­te sich und stell­te zum x-ten Mal die Kunst in Frage. Eine Mög­lich­keit war das Agi­ta­ti­ons­bild. Wir zei­gen, was Gut­tu­so und Erro von War­hol und Vo­stell un­ter­schei­det. Eien Wirk­kraft durch Kom­bi­na­to­rik, durch das ver­glei­chen­de Auf­zeich­nen ei­ni­ger Tat­sa­chen, die die Kli­schee­fa­bri­kan­ten ver­mit­tel­ten, er­scheint ihnen zu ge­ring. Sie pro­du­zie­ren wi­der­stands­fä­hi­ge An­ti­k­li­schees: die ver­ei­nig­ten Re­vo­lu­tio­näre der Welt drin­gen in ein ame­ri­ka­ni­sches Wohl­stands­schaf­zim­mer ein.

Das En­ga­ge­ment ver­schärf­te sich. Die Ent­ta­bui­sie­rung der Se­xua­li­tät be­ginnt, Lan­ge­wei­le zu er­re­gen. Allen Jones zeigt die Sät­ti­gung. Nack­te Frau­en­fi­gu­ren wer­den zu Mö­beln eines vor­stell­ba­ren Sa­lons. Mel Ramos schafft Uto­pi­en eines neuen Gar­ten Eden, in dem „Göt­tin­nen“ des 20. Jahr­hun­derts spie­len.

Das En­ga­ge­ment ver­schärf­te sich. So­zia­le Bin­dun­gen schrump­fen zu Be­zie­hun­gen der Liebe und Freund­schaft. Die Psy­cho­lo­gie ge­winnt neue Be­deu­tung. Segal, der in sei­nen Gips­ab­for­mun­gen nur Freun­de und Ver­trau­te dar­stellt, wird nicht mehr der Pop Art zu­ge­wie­sen. Der junge Chuck Close malt mi­nu­ti­ös rie­si­ge Fahn­dungs­bil­der sei­ner engs­ten Nach­barn. Die Künst­ler fin­den ein neues Selbst­ver­ständ­nis. Sie in­te­grie­ren sich nicht mehr, son­dern iso­lie­ren sich von der Ge­sell­schaft, zie­hen sich in Krei­se von Ver­trau­ten, in me­di­ta­ti­ve Musik- und Rau­scher­leb­nis­se, in Land­häu­ser oder gar die Wüste zu­rück.

Die Land­schaft wird ihnen zum Thema. Sie ana­ly­sie­ren sie mit geo­dä­ti­schem Kal­kül wie Smit­h­son, sie malen Was­ser­fäl­le und ro­man­tisch karge Ge­birgs­land­schaf­ten wie Nes­bitt und Rich­ter. Sie in­ter­es­siert nicht mehr das Land­schaft­s­er­leb­nis des Au­to­fah­rers wie D´Ar­can­ge­lo und Wes­sel­mann. Sie su­chen die Sicht des ein­sie­deln­des Wan­de­rers.

Den jun­gen Künst­lern fehlt die ur­ba­ne Ge­las­sen­heit, die der Pop-Ge­ne­ra­ti­on wich­tig war. Ihr Ver­hält­nis zur ge­sell­schaft­li­chen Wirk­lich­keit ist ge­spannt. Sie sind ir­ri­tiert. Sie ver­wen­den nicht mehr mit Selbst­ver­ständ­lich­keit Ma­te­ria­li­en der Mas­sen­me­di­en in ihren Bil­dern, sie set­zen nicht mehr Fo­to­gra­fi­en in ihre Werke ein, son­dern malen for­ciert Foto- und Fern­seh­bil­der in un­ge­wohn­ten Grö­ßen nach. Sie wid­men sich aus­ge­fal­le­nen Mo­ti­ven.

Nancy Gra­ves stu­diert fa­na­tisch alles über Ka­me­le, um diese Tier­art – und nichts an­de­res – in ihren ver­schie­de­nen Er­schei­nungs­for­men le­bens­ge­treu und in ori­gi­na­ler Größe nach­zu­bil­den. Sehn­süch­te ma­chen sich gel­tend, die in der Kunst­ge­schich­te häu­fig Mo­ti­ve der Land­schaft, des Ori­ents, der Freund­schaft und der Liebe such­ten, um sich ver­bild­li­chen zu kön­nen.

Tech­ni­sche und All­tags­ge­gen­stän­de ge­win­nen neue Aus­drucks­qua­li­tä­ten. Deu­te­te noch Kla­pheck Schreib- und Re­chen­ma­schi­nen per­so­ni­fi­zie­rend um, so ge­nügt es Nes­bitt und Gnoli, Com­pu­ter und Klei­dungs­stücke kalt und ohne Über­deu­tung dar­zu­stel­len. Es geht genug von ihnen aus. Ein Ding ge­malt zu sehen, das man von Fo­to­gra­fi­en oder aus dem Fern­se­hen kennt, be­deu­tet Art­schwa­ger, Rich­ter, Nes­bitt ge­nü­gend Ir­ri­ta­ti­on.

Sie be­sin­nen sich auf ihre Quel­len. Die po­pu­lä­re Kunst­ge­schich­te ist nicht mehr nur als Ver­satz­stück in­ter­essant. Die Mona Lisa ver­liert an Wert. Ge­mäl­de­re­stau­ra­to­ren und Mu­se­ums­künst­ler wer­den ent­deckt: Deem malt in an­ge­pass­tem Duk­tus Werke alter Meis­ter nach und setzt sie in neue Kom­bi­na­tio­nen, Gra­zia­ni nutzt Hel­den­por­träts der Ver­gan­gen­heit, um US-pa­trio­ti­sche Bil­der zu schaf­fen. Es be­darf plötz­lich nicht mehr des täg­li­chen Wer­be­fern­se­hens, son­dern einer Por­ti­on Ge­schichts­wis­sen, um ihre Ge­mäl­de zu lesen.

Diese Kunst spie­gelt un­se­re Tage und ist doch Zu­kunfts­pro­jek­ti­on wie jede an­de­re vor ihr. Sie zeigt Miss­stän­de an. Sie scheint erns­ter, be­dach­ter, we­ni­ger ka­pri­zi­ös und ju­gend­lich un­be­küm­mert als Pop Art. Sie tritt mit dem großen An­spruch der Ori­gi­na­le auf. Es gibt kaum Re­pro­duk­ti­ons­gra­fik, sie ist nicht mul­ti­pli­zier­bar.

Die bei­den Grup­pen­sti­le, die wir in der Erstaus­stel­lung der NEUEN GALERIE zur Dis­kus­si­on stel­len, nen­nen die ame­ri­ka­ni­schen Kri­ti­ker „Ly­ri­sche Abstrak­ti­on“ und „Neu­er Rea­lis­mus“. Wir kon­fron­tie­ren sie mit äl­te­ren Wer­ken der sech­zi­ger Jahre, um ihre Merk­ma­le her­vor­zu­he­ben. Wir sind glück­lich, in Deutsch­land künst­le­ri­sche In­for­ma­tio­nen aus ers­ter Hand, Nach­rich­ten über die jüngs­te Kunst an­bie­ten zu kön­nen und dan­ken dem Samm­ler­ehe­paar Lud­wig herz­lich dafür, diese Mög­lich­keit ge­schaf­fen zu haben.

Wolf­gang Be­cker


Zum Fotorealismus der siebziger Jahre

La pre­pa­ra­zio­ne dell´oc­chio di­gi­ta­le
in. Ausst. kat. Iper­rea­lis­ti. Rom 2003
deut­sches Ma­nu­skript:

DIE VORBEREITUNG DES DIGITALEN AUGES

„Wäh­rend ich im kärg­lich mö­blier­ten Zim­mer in Ver­sail­les die Näh­ma­schi­ne mei­ner Wir­tin ab­mal­te, däm­mer­te mir, dass dies mehr werde als nur das Ab­bild eines be­schei­de­nen Ge­gen­stan­des der Haus­halts­tech­nik. In den ge­schwun­ge­nen Li­ni­en des Näh­ma­schi­nen­lei­bes, im schim­mern­den Kopf mit Fa­den­füh­rer, Fuß und Nadel er­kann­te ich Lilo wie­der, von der ich mich kurz zuvor im Streit ge­trennt hatte. Ein Teil mei­nes und ihres Kum­mers war in das Bild ein­ge­flos­sen, das ich für mich – ich wagte es zu­nächst kei­nem zu sagen – „Die ge­kränk­te Braut“ nann­te.“
(An­mer­kung 1)


Das klei­ne Ge­mäl­de „Die ge­kränk­te Braut“, des­sen Ge­schich­te der deut­sche Maler Kon­rad Kla­pheck hier er­zählt, ist eines jener rea­lis­ti­schen Bil­der der Mitte des 20. Jahr­hun­derts, die im Wi­der­stand gegen die da­mals herr­schen­de Dok­trin der ab­strak­ten Ma­le­rei ent­stan­den und erst zwan­zig Jahre spä­ter häu­fig aus­ge­stellt wur­den, als die Pop Art, der Nou­veau Réa­lis­me und die Hyper­rea­lis­ten in den Kunst­zen­tren Ame­ri­kas und West­eu­ro­pas im Vor­der­grund kunst­kri­ti­scher Aus­ein­an­der­set­zun­gen stan­den. Kla­phecks Schil­de­rung jener „A­n­eig­nung“ und „Ver­wand­lung“ einer Näh­ma­schi­ne sug­ge­riert, dass der Ge­gen­stand sorg­fäl­tig und ge­treu ab­ge­bil­det, zu­gleich aber einer Me­ta­mor­pho­se aus­ge­setzt wurde: das Bild der Näh­ma­schi­ne ist ein „sur­rea­lis­ti­sches“ Por­trät Lilos, sei­ner Braut. Der Titel als wich­ti­ger Teil des Bil­des öff­net den Zu­gang zur Bil­der­zäh­lung.

Kla­phecks Bil­der wie die von Do­me­ni­co Gnoli, Alex Col­ville, Phil­ipp Pearl­stein, Clau­dio Bravo und an­de­rer for­der­ten um 1970 Auf­merk­sam­keit, weil sie ein hohes Maß hand­werk­li­cher Meis­ter­schaft, eine alt­meis­ter­li­che Fein­ma­le­rei vor­führ­ten, die sich ma­ni­fest­haft gegen die „Ver­wil­de­run­gen“ der zeit­ge­nös­si­schen Mal­kul­tur wen­de­te. Aber die Rück­kehr zum Tafel- und Staf­fe­lei­bild, zum kunst­voll her­ge­stell­ten Wert­ge­gen­stand eines ge­rahm­ten Ge­mäl­des war das ein­zi­ge, was diese Grup­pe mit jenen jun­gen „Rea­lis­ten“ ver­band, die in eine in­ten­si­ve Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Me­di­um der zeit­ge­nös­si­schen Fo­to­gra­fie ein­ge­tre­ten waren. Die „pro­mo­ti­on cam­paign“, die sie durch­setz­te, wurde von New Yor­ker Händ­lern wie Ivan Karp (O.K.Har­ris Gal­le­ry) und Louis K. Mei­sel ge­lenkt, und in der Kas­se­ler Do­cu­men­ta 1972 stell­te Jean Chri­stoph Am­mann die Grup­pe, ver­bun­den mit ei­ni­gen Eu­ro­pä­ern ( Jean Oli­vi­er Hucleux, Franz Gertsch), groß­flä­chig vor. In den Mu­seen, die Werke der Samm­lung Lud­wig ver­wal­ten, ist sie bis heute am bes­ten ver­tre­ten.

„Ce qui me fa­s­ci­ne, c´est ce re­gard pur, dé­pouillé, stéri­lisé, rincé de toute ma­tiè­re, d´une can­deur en quel­que sorte ma­thé­ma­ti­que ou angé­li­que, ou di­sons sim­ple­ment pho­to­gra­phi­que, mais quel­le pho­to­gra­phie : en qui ce pein­tre, re­clus à l´intérieur de sa len­til­le, capte le monde ex­térieur. » (An­mer­kung 2)

Diese Zei­len schrieb im 19. Jahr­hun­dert der fran­zö­si­sche Kunst­kri­ti­ker Clau­del vor einem Bild von Ver­meer van Delft. Er be­schreibt den Maler als Ge­fan­ge­nen sei­nes Aug­ap­fels und nennt sei­nen Blick fo­to­gra­fisch, weil er pur, von Rück­sich­ten be­freit, ste­ri­li­siert, rein­ge­wa­schen von Schmutz, von ma­the­ma­ti­scher oder en­gel­haf­ter Klar­heit sei. Er nimmt einen Dis­kurs über das fo­to­gra­fi­sche Sehen auf, der bis heute fort­dau­ert.

Ver­meer van Delft ge­hört zu jenen Ma­lern der Kunst­ge­schich­te, deren Seh­wei­se Ge­gen­stand vie­ler Stu­di­en wurde und die – so nimmt man an – den „fo­to­gra­fi­schen Blick“ an der „ca­me­ra obscu­ra“ ent­wi­ckelt haben. 1964 und 1966 un­ter­such­ten Charles Sey­mour und Hein­rich S. Schwarz die Frage, ob Ver­meer eine Ca­me­ra Obs­cu­ra be­nutz­te. Unter den vie­len Ar­gu­men­ten dafür und da­ge­gen deu­te­te eines klar dar­auf hin: „Die klei­nen Farb­kügel­chen, die wir in einer Reihe von Wer­ken fin­den….sind ge­mal­te Äqui­va­len­te jener dif­fu­sen Licht­krei­se, die sich beim Bild der Ca­me­ra Obs­cu­ra um die un­scharf ein­ge­stell­ten Spitz­lich­ter herum bil­den“.(An­mer­kung 3)

Dass Kunst­his­to­ri­ker in den sech­zi­ger Jah­ren des 20. Jahr­hun­derts den „fo­to­gra­fi­schen Blick“ und seine Hilfs­mit­tel in der Ver­gan­gen­heit stu­dier­ten, er­scheint be­deu­tend für eine Epo­che, in der die fo­to­rea­lis­ti­schen Maler ihre Stra­te­gi­en vor­be­rei­te­ten. Denn es zeich­ne­te diese Maler nicht etwa aus, das sie Fo­to­gra­fi­en als Bild­quel­len für ihre Ge­mäl­de be­nutz­ten oder fo­to­gra­fi­sche Gerä­te wie Ka­me­ras und Dia­pro­jek­to­ren ein­setz­ten, son­dern dass sie jenen „s­te­ri­li­sier­ten“, ma­the­ma­tisch kla­ren, fo­to­gra­fi­schen Blick zum Ge­gen­stand ihrer Ge­mäl­de mach­ten.

In sei­ner Un­ter­su­chung zur Optik „Di­op­tri­ce“ von 1611 schil­dert Jo­han­nes Kep­ler, wie die kon­ka­ve Netz­haut des mensch­li­chen Auges mit den far­bi­gen Strah­len sicht­ba­rer Dinge wie mit „pen­cil­li“, fei­nen Pin­seln, „be­malt“ wird. Swet­la­na Al­pers be­nutzt in ihrem Buch über die hol­län­di­sche Ma­le­rei des 17. Jahr­hun­derts die­ses Zitat, um eine Theo­rie der Ma­le­rei „des Nor­dens“ zu be­grün­den und auf die sorg­fäl­ti­ge Fein­ma­le­rei der nie­der­län­di­schen Maler jener Zeit hin­zu­wei­sen. (An­mer­kung 4) In einem Ne­ben­satz weist sie auf die „Neo­rea­lis­ten“ ihrer Zeit hin.

In der Tat neh­men die Fo­to­rea­lis­ten des 20. Jahr­hun­derts diese Tra­di­ti­on auf und fügen den „pen­cil­li“ ein neues In­stru­ment hinzu: den Farb­zer­stäu­ber, den Ae­ro­sol, die Air­brush, die die schein­bar im­ma­te­ri­el­len Strah­len sicht­ba­rer Dinge un­end­lich fei­ner noch imi­tie­rend wie­der­ge­ben kann – man be­greift diese Vor­stel­lung leicht, wenn ein fo­to­rea­lis­ti­sches Ge­mäl­de so aus­ge­leuch­tet wird, als fiele eine Dia­pro­jek­ti­on auf die leere Lein­wand. Die Air­brush mit ihren fei­nen Düsen, die unter hohem Druck dünn­flüs­si­ge Acryl­far­be frei­ge­ben, ist ein idea­les In­stru­ment, um eine äu­ßerst glat­te Ober­flä­che zu er­zeu­gen, die der Glät­te einer Fo­to­gra­fie auf Ba­ryt­pa­pier oder sogar einer ver­glas­ten Fo­to­gra­fie nahe kommt. Wenn Richard Estes glä­ser­ne Haus­fassa­den wie­der­gibt, strebt er da­nach, die­ses „glos­sy fi­nish“ zu er­zeu­gen, das leicht eine Au­gen­täu­schung her­vor­ruft.

Wie die nie­der­län­di­schen Still­le­ben­ma­ler des 17. Jahr­hun­derts lie­ben Fo­to­rea­lis­ten des 20. Jahr­hun­derts spie­geln­de Flä­chen und harte, po­lier­te Ma­te­ria­li­en: Glas, Alu­mi­ni­um, elo­xier­ten Stahl – Schau­fens­ter, Stoß­stan­gen von Li­mou­si­nen, Aus­puff­roh­re von Mo­tor­rä­dern, me­tal­le­ne Wohn­wa­gen. In ihrer Summe bil­den ihre Mo­ti­ve die Iko­no­gra­fie einer un­ir­disch sau­be­ren, ste­ri­li­sier­ten, hoch ent­wi­ckel­ten Zi­vi­li­sa­ti­on, und sie deu­ten auf einen pa­trio­ti­schen Stolz, der die Au­to­ren an­lei­tet, Wohl­stand, Reich­tum, Sät­ti­gung Ame­ri­kas vor­zu­füh­ren. Indem die Bil­der Lu­xus­gü­ter zei­gen, wer­den sie selbst zu Lu­xus­gü­tern.

Richard Estes, Don Eddy, John Ba­eder und Ben Schon­zeit ent­wer­fen Bild­frag­men­te einer Stadt New York, die so nur dort exis­tiert, wo das Auge des Tou­ris­ten nach Schön­hei­ten sucht. Ralph Goings ver­klärt den Wohn­wa­gen auf dem Park­platz einer Land­stra­ße, die Hülle für ein au­tis­ti­sches No­ma­den­le­ben, so sehr, dass der Be­trach­ter sei­nes Bil­des der Sug­ge­s­ti­on er­liegt, vor einem Raum­fahr­zeug in der At­mo­sphä­re­lo­sig­keit des Mon­des zu ste­hen. Was lei­tet die­sen „fo­to­gra­fi­schen Blick“, der mit der Kälte eines schein­bar wis­sen­schaft­li­chen Auges auf nichts als „schö­ne“ Ober­flä­chen stößt?

„Die schö­ne Ober­flä­che“, die wir be­ob­ach­ten, ent­steht im Wett­streit mit den Ober­flä­chen der Fo­to­gra­fi­en. Der Maler, der das Hand­werk des Fo­to­gra­fen, des „Licht­bild­ners“, der „mit dem Licht zeich­net“, in sein ei­ge­nes Hand­werk auf­nimmt, ist so­zu­sa­gen ver­dammt, eine Schön­heit der Ober­flä­che zu er­zeu­gen: sie bleibt umso mehr eine ge­mal­te, po­rö­se, at­men­de Farb­haut, je mehr er sie einer Fo­to­gra­fie an­zu­glei­chen sucht. Der Mal­hand­wer­ker per­fek­tio­niert sein Werk­stück zu einem Zeug­nis sei­ner Meis­ter­schaft.

(Im Ge­gen­satz zu sei­nem in­tel­lek­tu­el­len Geg­ner, dem zeit­ge­nös­si­schen Kon­zept­künst­ler, der das hand­werk­li­che Pro­dukt dem Ma­ni­fest, dem Text, dem Kon­zept op­fert.)

Da die Fo­to­rea­lis­ten das glei­che Hand­werks­zeug be­nut­zen, zie­len sie auf eine Per­fek­ti­on, die die Bil­der des einen mit denen des an­de­ren ähn­lich macht. Folg­lich nei­gen sie dazu, sich auf The­men­kom­ple­xe zu kon­zen­trie­ren, die sie von­ein­an­der un­ter­schei­den: Estes malt Haus­fassa­den und Stra­ßen­schluch­ten, Cot­ting­ham Re­kla­me­schrif­ten über Haus­ein­gän­gen, Ben Schon­zeit die De­ko­ra­tio­nen von Schau­fens­tern, Salt Au­to­fried­hö­fe, Tom Black­well Mo­tor­rä­der, Chuck Close be­setzt ex­klu­siv das Feld über­le­bens­großer Por­träts.

Mit Aus­nah­men be­nut­zen alle ei­ge­ne Fo­to­gra­fi­en als Bild­quel­len. Das In­ter­es­se an ihren Mo­ti­ven schließt wahr­neh­mungs­tech­ni­sche Fra­gen ein; die Spie­ge­lun­gen, wech­seln­den Fo­cus­sie­run­gen und per­spek­ti­vi­schen Deh­nun­gen über­stei­gern die do­ku­men­ta­ri­schen Ab­sich­ten eben­so wie der „Still­stand“, das „Stil­le­ben“ in ihnen: keine Men­schen has­ten durch die Bil­der, keine Schmutz­fle­cken be­su­deln die Ge­gen­stän­de, keine Wol­ken ver­fins­tern die Him­mel, nichts be­wegt sich – die um ei­ni­ge Grade er­höh­te Rea­li­tät ver­setzt den Be­trach­ter in hei­te­re Ruhe. Leere be­deu­tet hier Schön­heit. Der „wis­sen­schaft­li­che“ Blick zeigt keine mensch­li­che Teil­nah­me, in einem tra­di­tio­nel­len hu­ma­nis­ti­schen Sinn sind die Bil­der leer wie die Ge­gen­stän­de, die sie ab­bil­den. Nur dort, wo der Blick sich auf Dinge rich­tet, die ver­fal­len, auf Au­to­fried­hö­fe und Müll­hal­den, wo also Zeit als Ge­schich­te in das Spiel ein­tritt, scheint eine nost­al­gi­sche An­teil­nah­me auf. Dort kann auch Fülle ent­ste­hen.

So malte der Ka­li­for­nier Paul Sar­ki­si­an 1972 das 4 x 8 m große Bild „Un­tit­led (Maple­ton)“ , die Vor­der­front einer ver­las­se­nen Holz­hüt­te, die jedem, der sie in der Kas­se­ler Do­cu­men­ta 1972 sah, so groß er­schi­en, wie sie ge­malt war: 1: 1, „Ac­tu­al Size“. Diese 1:1-Über­ra­schung rech­net mit einem Be­trach­ter in mitt­ler­er Ent­fer­nung, aber Sar­ki­si­an be­gnüg­te sich nicht damit, ihm im engen Aus­schnitt die ge­sam­te Front des Hau­ses mit dem zu­ge­hö­ri­gen Zie­gel­dach zu prä­sen­tie­ren, son­dern fügte ein rei­ches In­ven­tar von ver­wil­der­ten Ge­brauchs­ge­gen­stän­den hinzu, die er aus vie­len Ein­zel­fo­tos über­trug. Diese Üb­er­fül­lung kann das un­kon­zen­trier­te Auge weder in der Rea­li­tät noch in der Fo­to­gra­fie auf­neh­men. Wenn der Be­trach­ter die große schwarz-weiße Ab­bil­dung als ge­mal­tes Bild er­kennt, wird er seine Kon­zen­tra­ti­on stei­gern, das Auge wird die Ober­flä­che ab­tas­ten und die De­tails nicht an­ders als das ge­sam­te Bild lesen – als eine Ad­di­ti­on von Stil­le­ben, die mehr ist als ihre Summe. „Wenn ich an­fan­ge, ein Ob­jekt zu malen, male ich so lange, wie ich die Ma­le­rei noch sehe. Wenn das Bild ab­ge­schlos­sen ist und mit mir auf gleich und gleich steht, ver­schwin­det der Ma­le­rei­aspekt. Es ist kein Ge­mäl­de mehr, es ist Rea­li­tät…. (An­mer­kung 5 )

Sar­ki­si­an führt eine Stra­te­gie vor, die in der „fo­to­gra­fi­schen Ma­le­rei“ die Ma­ni­pu­la­tio­nen, die in der di­gi­ta­len Fo­to­gra­fie selbst­ver­ständ­lich wer­den, vor­weg­nimmt. Aber er ist nicht der ein­zi­ge, den wahr­neh­mungs­tech­ni­sche Stu­di­en zu Fra­ge­stel­lun­gen füh­ren, die uns heute ak­tu­ell er­schei­nen.

Chuck Close zeig­te 1971 in der Düs­sel­dor­fer Aus­s­tel­lung „Pro­spect 71 Pro­jec­ti­on“ das Por­trät sei­nes Freun­des Bob und einen 10 Mi­nu­ten lan­gen Film: er hatte das große Bild in ho­ri­zon­ta­len Fahr­ten von oben links nach unten rechts aus einer Ent­fer­nung von etwa 10 cm auf­ge­nom­men. Aus großer Nähe in klei­nen Räu­men soll­ten auch seine Bild­nis­se be­trach­tet wer­den. Nicht die „Ge­stalt“ soll­te der Aus­lö­ser einer kon­ti­nu­ier­li­chen dif­fe­ren­zie­ren­den Wahr­neh­mung sein, son­dern ein be­lie­bi­ges De­tail soll­te zu einer lang­sa­men De­dif­fe­ren­zie­rung füh­ren. Die De­dif­fe­ren­zie­rung be­stimm­te auch seine Über­tra­gung der qua­drier­ten Seg­men­te der Fo­to­vor­la­ge. Er konn­te je­der­zeit jedes Seg­ment über­tra­gen. Da er nur in der letz­ten Phase mit dem Pin­sel malte und vor­her aus­schließ­lich die Air­brush ver­wen­de­te, um Pig­ment­par­ti­kel auf­zu­stäu­ben, ist jedes Seg­ment au­to­nom; keine Be­we­gung, kein Strich führt von einem zum nächs­ten. Diese Seg­men­te sind ge­gen­stands­los und wür­den eine Be­trach­tung des Bil­des als eine ab­strak­te Mal­flä­che er­lau­ben, wenn die Ge­stalt es nicht ver­hin­der­te. Wir haben uns an­ge­wöhnt, sol­che ab­strak­ten Pi­xel­qua­dra­te dort zu sehen, wo in TV-Bil­dern Ge­sich­ter un­kennt­lich ge­macht wer­den. Sie ver­wei­sen auf ein un­sicht­ba­res elek­tro­ni­sches Ras­ter, das die Bil­der auf den Schir­men zu­sam­men­fügt.

Ähn­li­che Ver­su­che, ein Bild in selbst­stän­di­ge Par­ti­kel auf­zu­lö­sen und aus ihnen zu­sam­men­zu­fü­gen, un­ter­nimmt in der glei­chen Zeit nicht nur Ger­hard Rich­ter, son­dern auch Mal­colm Mor­ley. Fran­ces Mor­ley hat seine Ar­beits­wei­se 1972 so be­schrie­ben:

„Mor­ley trennt und schnei­det das zu ma­len­de Bild in klei­ne Recht­e­cke. Jedes Recht­eck ist um 180 ° ge­dreht, und die ver­git­ter­te Lein­wand wird um 180 ° ge­dreht. So schei­tert jede vor­ge­fass­te Idee einer um­fas­sen­den Sicht an der Un­le­ser­lich­keit der Aus­gangs­si­tua­ti­on. Dafür er­hal­ten die Qua­dra­te Ei­gen­schaf­ten, die zum An­brin­gen der Farbe rei­zen. Mor­ley kann eine klei­ne Flä­che auf einen Blick er­fas­sen und so ne­ben­ein­an­der lie­gen­de Zen­tren kre­ie­ren, die sich wie von selbst gleich­ran­gig über die ganze Bild­flä­che ver­tei­len.“(An­mer­kung 6)

Den Hin­ter­grund des Mal­pro­zes­ses, den Künst­ler wie Close oder Mor­ley ent­wi­ckel­ten, bil­det eine Aus­ein­an­der­set­zung mit dem elek­tro­ni­schen, dem di­gi­ta­len Me­di­um. Wie ver­än­dern sich un­se­re Seh­wei­sen, wenn die far­bi­gen Strah­len, die un­se­re Netz­haut „be­ma­len“, nicht von Din­gen er­zeugt, son­dern von di­gi­ta­len Pro­gram­men ge­ne­riert wer­den? Die Air­brush hatte dazu bei­ge­tra­gen, dass die fes­ten For­men, die die Pin­sel mit lang­sam trock­nen­der Öl­far­be mo­del­liert hat­ten, nun wie in Aqua­rel­len zer­flos­sen und, noch mehr, zer­stäub­ten. Fort­an haben wir es mit be­weg­li­chen, „flüs­si­gen“ Bild­ober­flä­chen zu tun, die die Sug­ge­s­ti­on rich­tungs­lo­ser Be­weg­lich­keit ver­mit­teln. Wenn sol­che Bild­ober­flä­chen dem ent­spre­chen, was un­se­re Netz­haut auf­zeich­net, so ent­steht eine neue Form der Au­gen­täu­schung, ein neues trom­pe l´oeil - ein jüngs­tes Zeug­nis jenes Ef­fek­tes, den Maler und Bild­hau­er seit der grie­chi­schen An­ti­ke ge­nutzt haben.

Zu die­ser Tra­di­ti­on schei­nen wir zu­rück­zu­keh­ren, wenn wir die we­ni­gen drei­di­men­sio­na­len Werke des Grup­pen­stils Fo­to­rea­lis­mus be­trach­ten. Als die Skulp­tu­ren von Duane Han­son zu­erst in New York be­kannt wur­den, ord­ne­te man sie die­sem Grup­pen­stil zu, und der Volks­mund stand vor ihnen und sagte: Wie eine Fo­to­gra­fie! Aber Han­son meint nicht die Fo­to­gra­fie, son­dern den Ge­gen­stand selbst – oder sein Spie­gel­bild.

Die Seh­ge­wohn­hei­ten vor dem Spie­gel schlie­ßen die Regel ein, dass der Ge­gen­stand, der sich spie­gelt, genau so groß ist wie sein re­flek­tier­tes Bild. Die Be­geg­nung mit einer le­bens­großen Figur ent­hält darum keine Über­ra­schung. Be­frem­den er­re­gen da­ge­gen die Ver­klei­ne­rung (Ro­bert Gra­ham) oder die Ver­grö­ße­rung (Ron Mueck). In der Über­tra­gung vom Mo­dell in die Skulp­tur kann die Fo­to­gra­fie als rück­ver­si­chern­des Do­ku­ment eine Rolle spie­len. Aber als Han­son die Clochards aus der Bo­we­ry mo­del­lier­te, hatte er die Mo­del­le nahe vor Augen und be­nutz­te über­dies ihre Klei­dung und den Müll, der sie umgab, um seine Skulp­tu­ren­grup­pe zu in­sze­nie­ren. Die „Su­per­mar­ket Lady“ hat er nicht mehr mo­del­liert. Sie ist die erste sei­ner Plas­ti­ken, die als Ab­guss ent­stan­den sind. Als er sie be­mal­te und mit ihren Ac­ces­soires aus­stat­te­te, war ihm be­wusst, dass das Ziel sei­ner Ar­beit eine scho­ckie­ren­de Täu­schung, ein Ve­xier­spiel mit der Wirk­lich­keit sein würde. Er führ­te die Frau aus dem Groß­kauf­haus in Dow­n­town Man­hat­tan sel­ber vor, und nur, weil es nicht mög­lich war, ihren le­ben­den Kör­per in den neu­tra­len Aus­s­tel­lungs­raum zu stel­len, er­setz­te er sie durch ein Sur­ro­gat. Diese Frau selbst und nicht ihr Ab­bild, aus­ge­wählt aus kom­ple­xen so­zi­al­kri­ti­schen Grün­den, soll­te öf­fent­lich die denk­wür­di­ge Span­nungs­lo­sig­keit und Sta­gna­ti­on einer Kon­sum­ge­sell­schaft re­prä­sen­tie­ren. Die­ser An­spruch ist immer emp­fun­den wor­den, so lange die Figur im Kuns­traum wahr­ge­nom­men wurde. Als sie ein­mal vor der Kasse der Le­bens­mit­te­l­ab­tei­lung eines Kauf­hau­ses auf­ge­stellt war, wurde sie nur von we­ni­gen be­ach­tet.

Früh­jahr 2003

An­mer­kun­gen:
(1) Zi­tiert nach: Mag­da­le­na M. Mo­el­ler: Kon­rad Kla­pheck, in: Po­si­tio­nen. Ma­le­rei aus der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land. Aus­s­tel­lungs­ka­ta­log Spren­gel-Mu­se­um, Han­no­ver 1986 Seite 113
(2) Svet­la­na Al­pers. The Art of De­s­cri­bing. Dutch Art in the 17th Cen­tu­ry, Chi­ca­go 1983 – Kunst als Be­schrei­bung. Hol­län­di­sche Ma­le­rei des 17. Jahr­hun­derts, Köln 1985 Seite 85
(3) Al­pers a.a.O. Seite 87)
(4) Al­pers a.a.O. Seite 97/98
(5) zi­tiert nach: Peter Sager, Neue For­men des Rea­lis­mus, Köln 1973
(6) zi­tiert nach: Do­cu­men­ta 5, Aus­s­tel­lungs­ka­ta­log, Kas­sel 1972 Ab­tei­lung 15, Seite 37


Les Nouveaux Fauves - Die Neuen Wilden

Stadt Aa­chen
Neue Ga­le­rie – Samm­lung Lud­wig
LES NOUVEAUX FAUVES – DIE NEUEN WILDEN
Samm­lung Lud­wig
19. Ja­nu­ar bis 21. März 1980
Lose-Blatt-Ka­ta­log in 2 Bän­den mit ein­ge­leg­ten Farb­kar­ten
Hg. Wolf­gang Be­cker

Wolf­gang Be­cker
LES NOUVEAUX FAUVES / DIE NEUEN WILDEN
Vor­schlag zu einer Un­ter­su­chung

Die­ser Ka­ta­log ist der einer Aus­s­tel­lung, die sich an­maßt, nord­ame­ri­ka­ni­sche, fran­zö­si­sche und deut­sche Künst­ler unter einem ge­mein­sa­men Titel vor­zu­stel­len, der so aus­sieht wie eine Stil­be­zeich­nung – und zu­gleich der des neuen Be­stan­des, Do­ku­ment einer Lei­den­schaft des Sam­melns, dem meh­re­re an­de­re vor­aus­ge­gan­gen sind. Das Sam­meln, seine Ge­set­ze und seine Be­schrän­kun­gen be­stim­men also die Aus­wahl der Künst­ler und der Werke die­ser Aus­s­tel­lung, die zu­gleich das vor­läu­fi­ge Ziel eines pe­ri­odi­schen En­ga­ge­ments des Samm­ler­ehe­paa­res Lud­wig war.


Die Ge­schich­te der Auf­nah­me von Kunst­wer­ken durch die Ge­sell­schaft hat ins­ge­samt heute eine prag­ma­ti­sche, von Ge­set­zen der frei­en Markt- und Wer­be­wirt­schaft ab­hän­gi­ge Seite. Sie tritt am deut­lichs­ten dort her­vor, wo Samm­ler die Re­zep­ti­on neuer Kunst­strö­mun­gen mit be­stim­men.

Wenn wir hier drei geo­gra­fisch be­stimm­te Künstler­grup­pen zu­ein­an­der ord­nen, so zei­gen wir eine Gleich­zei­tig­keit ihrer Re­zep­ti­on in un­se­rer Samm­lung, als wäre sie stell­ver­tre­tend für die Gleich­zei­tig­keit ihrer Ent­de­ckung in der Kun­st­öf­fent­lich­keit. Die deut­schen Künst­ler Ba­se­litz, Im­men­dorff, Lü­pertz und Penck sind aber in der Bun­des­re­pu­blik, der Schweiz und den Nie­der­lan­den seit etwa 10 Jah­ren be­kannt, der „Alt­meis­ter“ Han­tai, Clau­de Vi­al­lat und Louis Cane wer­den in der fran­zö­si­schen Kunst­kri­tik seit 1967 dis­ku­tiert, und Neil Jen­ney, Mi­riam Scha­pi­ro und Ro­bert Za­ka­nitch sind eben­so „ge­stan­de­ne“ Künst­ler mit be­we­gungs­vol­len Le­bens­läu­fen.

Die Gleich­zei­tig­keit, die un­se­re Aus­s­tel­lung sug­ge­riert, ist also nicht not­wen­di­ger­wei­se die einer Ge­ne­ra­ti­on, nicht die einer in sich kom­mu­ni­zie­ren­den Künstler­grup­pe, son­dern re­flek­tiert Be­dürf­nis­se der Kun­st­öf­fent­lich­keit, die von der Kunst­kri­tik und den Aus­s­tel­lungs­diens­ten schwer­punkt­ar­tig ar­ti­ku­liert wer­den. Wenn die meis­ten Künst­ler un­se­rer Aus­s­tel­lung heute im Mit­tel­punkt öf­fent­li­cher Auf­merk­sam­keit ste­hen, dann schei­nen sie be­stimm­ten Be­dürf­nis­sen Re­chen­schaft zu geben, die wir zu be­fra­gen haben. Hier sind ei­ni­ge, roh um­ris­sen: Far­big­keit – Hitze – ge­stal­te­ter Aus­druck – Spon­ta­nei­tät – Locker­heit – Un­ru­he – Emo­ti­on – Er­leb­nis – Ge­schich­te – Ori­ent – Ge­samt­kunst­werk – Syn­the­se – Kom­mu­ni­ka­ti­on – Pra­xis.

Wir kön­nen uns also vor­stel­len, dass die Künst­ler, die jetzt durch große Aus­s­tel­lun­gen in das Licht der großen Öf­fent­lich­keit tre­ten, sich gegen jene wen­den, die die­sen Be­dürf­nis­sen nicht ent­spro­chen haben. Die also farb­los, kalt, aus­drucks­los, kal­ku­lie­rend, be­ses­sen, ruhig, emo­ti­ons­los, ge­schichts­los, aka­de­misch, ana­ly­tisch, kom­mu­ni­ka­ti­ons­arm und pra­xis­fremd waren. Vi­el­leicht trägt das so de­fi­nier­te Feind­bild dazu bei, un­se­re neuen Hel­den zu be­stim­men.

Die Ber­li­ner Lü­pertz und Ba­se­litz und der ihnen na­he­ste­hen­de Dres­de­ner Ralph Wink­ler – A. R. Penck set­zen sich in der ers­ten Hälf­te der sech­zi­ger Jahre gegen die zeit­ge­nös­si­sche nord­ame­ri­ka­ni­sche Kunst – die pop art – ab, die die öf­fent­li­che eu­ro­päi­sche Kunst­sze­ne be­herrsch­te. Diese Ab­set­zung führ­te sie in ihre ei­ge­nen Schu­len zu­rück – über nord­eu­ro­päi­sche Ausprä­gun­gen des in­for­mel wie COBRA bis zum deut­schen Frü­h­ex­pres­sio­nis­mus. Gegen die groß­städ­tisch zy­ni­sche Ab­wer­tung der Bild­in­hal­te und –spra­chen der pop art führ­ten sie ein kraft­meie­ri­sches, dunkles Pa­thos ein, ver­such­ten „Anti-Bil­der“ „ohne Stil“ (Ba­se­litz) her­zu­stel­len und ent­wi­ckel­ten lang­sam ihre streng in­di­vi­dua­lis­ti­schen Hand­schrif­ten. Ba­se­litz er­hält sich in sei­nen spä­ten Wer­ken, die wir hier zei­gen, da­durch, dass er wei­ter­hin ver­trau­te Ge­gen­stän­de auf dem Kopf malt, die schein­ba­re Gleich­gül­tig­keit ge­gen­über dem Motiv, stei­gert aber den Aus­druck des Mal­auf­tra­ges so in die Locker­heit einer gro­ben Skiz­ze hin­ein, dass die Mo­ti­ve nur noch als Bild­an­läs­se sicht­bar sind.

Im Ge­gen­satz zu ihm hat Lü­pertz zum „Stil“ ge­fun­den, der sei­nen An­spruch an die ge­sell­schaft­li­che Rolle des Künst­lers eben­so be­stimmt wie den an das Bild. Seit 1963 ar­bei­tet er mit dem Be­griff „Di­thy­ram­be“ und trägt seine Bil­der „be­geis­tert, schwung­voll“ als „Lob­lie­der“, „fei­er­li­che Ge­dich­te“ vor. Die Wen­dung zu In­hal­ten von großer Er­ha­ben­heit („Der Tod“, „Der Früh­ling“) und zu einer mo­nu­men­ta­len Bild­spra­che in Pa­thos­for­meln zeigt den Grad der Ab­set­zung von allem, was wir in den sech­zi­ger Jah­ren als „mo­dern“ in der Kunst emp­fun­den haben: die Öff­nung zu den Mas­sen­me­di­en und ihren Tech­ni­ken, die ge­sell­schafts­na­he Ak­ti­vi­tät des Künst­lers, die ana­ly­ti­sche Iro­nie. Vollends füh­ren uns die Ar­bei­ten von An­selm Kie­fer aus der Ge­gen­wart in die Be­schäf­ti­gung mit ge­schicht­li­chen In­hal­ten, die einem spe­zi­fisch deut­schen Be­wusst­sein an­ge­hö­ren – vor­ge­tra­gen in einer Spra­che, die roh und un­fer­tig sein und sich damit der ra­schen Kon­sump­ti­on ent­zie­hen will.

Ich habe den Titel „Les Nou­veaux Fau­ves – Die Neuen Wil­den“ in der Aus­s­tel­lung „Pa­ris – Ber­lin“ im Pa­ri­ser Cen­tre Pom­pi­dou ge­fun­den, weil ich dort die Frage un­ge­nü­gend be­ant­wor­tet fand, was den „Fau­ves“ und den deut­schen Ex­pres­sio­nis­ten um 1910 ge­mein­sam war und was sie trenn­te, und weil ich für dis­kus­si­ons­wür­dig halte zu un­ter­su­chen, ob Ge­mein­sam­kei­ten und Ver­schie­den­hei­ten heute wie­der auf­tre­ten – wenn wir davon aus­ge­hen, dass hier wie dort Rück­be­zü­ge zum Fau­vis­mus – Ex­pres­sio­nis­mus sicht­bar sind. Bei­spiels­wei­se: tritt der „Tau­mel“ ( „Le Ver­ti­ge“), die Nei­gung zur ex­sta­ti­schen Üb­er­hö­hung, zur Me­ta­phy­sik, die Nähe von Bild­kunst, Li­te­ra­tur und Phi­lo­so­phie, die die Fran­zo­sen an den deut­schen Ex­pres­sio­nis­ten fas­zi­nier­te und ab­schreck­te, heute bei Ba­se­litz, Penck, Lü­pertz und Kie­fer wie­der auf? Oder: be­ob­ach­ten wir in der fran­zö­si­schen Kunst heute den glei­chen Grad von ma­le­ri­scher Dis­zi­plin, Ra­tio­na­li­tät des Ge­schmacks, des Stre­bens nach Aus­gleich und Har­mo­nie – und der ge­sell­schaft­li­chen Un­ver­bind­lich­keit, die wir bei Ma­tis­se und sei­nem Kreis ge­se­hen haben? Und was schließ­lich fügen jene Ame­ri­ka­ner hinzu, die – in deut­li­chem Bezug zu Ma­tis­se – mit großen Tü­chern in prun­ken­den Far­ben die Or­na­ment­ge­schich­te die­ser Welt auf­zu­ar­bei­ten schei­nen?

Diese Aus­s­tel­lung ist nicht Er­geb­nis einer Un­ter­su­chung, son­dern soll ihr An­lass sein. Darum stel­len wir die Fra­gen nur, be­ant­wor­ten sie heute aber nicht.

Es gibt schein­bar nichts, das einen Ver­gleich zwi­schen den deut­schen und den fran­zö­si­schen Künst­lern diese Aus­s­tel­lung ge­stat­te­te – es sei denn jene zum Pa­thos nei­gen­de Ex­pres­si­vi­tät, die sich bei Cane eben­so wie bei Vi­al­lat in den letz­ten Jah­ren ent­wi­ckelt hat. Die Künstler­grup­pe „sup­port – sur­face“ ( Bild­trä­ger – Bild­flä­che) hat seit der Mitte der sech­zi­ger Jahre auf der Basis gründ­li­cher theo­re­ti­scher Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit Ma­tis­se und den Ame­ri­ka­nern Ad Rein­hardt, Bar­nett Ne­w­man, Mor­ris Louis und Frank Stel­la und auf der Basis eines kul­tur­po­li­ti­schen Dis­kur­ses Bil­der in Ge­gen­stän­de ver­wan­delt oder: Bild­trä­ger und Bild­flä­che eins wer­den las­sen. Dabei hat ihr der äl­te­re Han­tai als An­re­ger ge­dient. Als diese mit erd­na­hen Stof­fen ein­ge­färb­ten, zu­sam­men­ge­näh­ten, tam­po­nier­ten, lose her­ab­hän­gen­den Tü­cher be­kannt wur­den, er­schie­nen sie wie Va­ri­an­ten einer zeit­ge­nös­si­schen ab­strak­ten Ma­le­rei, die eben­so in Eu­ro­pa wie in Ame­ri­ka exis­tier­te. Nur Vi­al­lat hat den Ob­jekt­ge­dan­ken fort­ent­wi­ckelt, indem er Trod­deln und Fran­sen an vor­ge­fun­de­nen Stoff­bah­nen be­lässt oder ihnen Ge­wand­for­men gibt. So tritt lang­sam die Se­ria­li­tät des gleich­för­mi­gen Tam­po­nie­rens als Kom­po­si­ti­ons­prin­zip in den Hin­ter­grund. Vi­al­lat liebt die As­so­zia­ti­ons­nä­he zur Völ­ker­kun­de und zur au­ßer­eu­ro­päi­schen Or­na­men­tik, die wir in den ame­ri­ka­ni­schen Wer­ken wie­der­fin­den. Doch er ver­sagt sich das di­rek­te Zitat und hält damit un­ver­wech­sel­bar am stärks­ten die Nähe zu den ge­schnit­te­nen Pa­pie­ren von Ma­tis­se.

Die Grup­pe „sup­port – sur­face“ ist eben­so 1968 durch die po­li­ti­sche Ge­ne­ra­ti­ons­kri­se ge­schrit­ten wie ihre deut­schen Kol­le­gen. Folg­te sie einer fran­zö­si­schen Tra­di­ti­on, kul­tur­po­li­ti­sche For­de­run­gen immer äs­the­tisch zu in­stru­men­ta­li­sie­ren? Un­ter­schei­det sie das von den deut­schen Künst­lern ihrer Ge­ne­ra­ti­on?

Die fran­zö­si­sche „sup­port – sur­face“ – Grup­pe hat uns zum ers­ten Mal jene Gat­tung un­ge­spann­ter, frei hän­gen­der Bild­tü­cher vor­ge­führt (neh­men wir die Sei­den­tü­cher der „Hoar­frost“-Serie aus, die Ro­bert Rau­schen­berg 1974 ge­macht hat). Ein Tuch an einer Wand ist etwas an­ders als ein Bild; ihm fehlt der Rah­men, die Ab­gren­zung; es ist nicht Fens­ter, son­dern Vor­hang. Es steht nicht fest, son­dern be­wegt sich, es scheint Teil einer Auf­füh­rung zu sein. Die Tü­cher von Kim MacCon­nel und Ro­bert Kus­h­ner sind nach ihrer Her­kunft Ver­satz­stücke zu per­for­man­ces. Kus­h­ner wurde zu­erst durch seine wit­zi­gen, sa­ti­ri­schen Mo­de­schau­en be­kannt, in denen er al­lein oder mit Part­ne­rin­nen aus einem lo­cke­ren Re­ser­voir von Tuch­fet­zen ver­schie­dens­ter Her­kunft phan­tas­ti­sche Ko­stü­me im­pro­vi­sier­te. Und Man muss wis­sen, dass das Stück „Pa­go­de“ von MacCon­nel in un­se­rer Aus­s­tel­lung Re­qusit der per­for­man­ce „Mr. BURT his MEMORY of Mr. WHITE his FANTASY of Mr. DUNSTABLE his MUSICK / PAGODE” war und zwei Mu­si­kern mit zwei Spiel­zeug­kla­vie­ren und –or­geln Schutz bot. Die jetzt re­pro­du­zier­te Musik ist Teil des Stücks.

Die­ser Vor­gang, dass Re­qui­si­ten sich ver­selbst­stän­di­gen, ist aus der hap­pe­ning- und flu­xus-Be­we­gung um 1960 be­kannt, und eine spe­zi­fi­sche New Yor­ker Tra­di­ti­on er­laubt es, bei Kus­h­ner an die Schau­fens­ter­de­ko­ra­tio­nen und Mo­de­schau­en von Ol­den­burg zu er­in­nern. In die­ser Tra­di­ti­on bleibt auch die der pop art ei­ge­ne Liebe zu tri­via­len, ab­ge­nutz­ten, aus­ge­lei­er­ten, mil­lio­nen­fach re­pro­du­zie­ren Bild­mo­ti­ven er­hal­ten, die sich am reins­ten in der Ta­pe­ten- und De­ko­ra­ti­onss­tof­fe- In­dus­trie er­hal­ten hat (es ver­steht sich, dass jetzt, unter die­sem neuen Blick­win­kel, Werke von pop-Künst­lern aus Ame­ri­ka und Eu­ro­pa aus­ge­gra­ben wer­den, die auf Ta­pe­ten ba­sie­ren; wich­ti­ger ist aber, dass Künst­ler wie MacCon­nel sich auf ku­bis­ti­sche Col­la­gen und Ge­mäl­de von Pi­cas­so und Braque be­zie­hen, die selbst­ver­ständ­lich Ta­pe­ten wie Zei­tun­gen be­nutzt haben).

Wen­de­te sich die pop art gegen die er­star­ren­den Pa­thos­for­meln des ab­strak­ten Ex­pres­sio­nis­mus, so kön­nen wir uns er­lau­ben, diese neue, in New York von Ga­le­ri­en und Kri­ti­kern zu­sam­men­ge­fass­te Grup­pie­rung in einer Re­ak­ti­on auf die bild­ne­ri­sche As­ke­se und Kopflas­tig­keit der mi­ni­mal und con­cep­tu­al art zu sehen, weil die Re­ak­ti­on im Oeu­vre ei­ni­ger der Pro­tago­nis­ten als Bruch sicht­bar wird.

Die hohe Sen­si­bi­li­tät, die in einem kom­pak­ten Kunst­zen­trum wie der Insel Man­hat­tan alle kom­pe­ti­ti­ven Leis­tun­gen be­stimmt, macht sogar die Väter zu Kom­pli­zen. Über­deut­lich tra­gen Künst­ler wie Lich­ten­stein und Stel­la in die­sen Jah­ren ihr In­ter­es­se an der Se­ria­li­tät und ex­pres­si­ven Bild­haf­tig­keit his­to­ri­scher Or­na­men­te vor.

Wir kön­nen in den Ve­rei­nig­ten Staa­ten ein un­gleich hö­he­res Be­wusst­sein als bei uns für die Ge­schich­te des ame­ri­ka­ni­schen Kunst­hand­werks und die der Kunst der In­dia­ner vor­aus­set­zen. Das na­tio­na­le Selbst­ver­ständ­nis gibt Ge­gen­stän­den die­ser Ge­schich­te ein Ge­wicht, das wir nicht ken­nen. Diese eth­no­lo­gi­sche Nei­gung be­glei­tet die ame­ri­ka­ni­sche Kunst und tritt heute stark her­vor. Sie ist aber nicht vi­ru­lent na­tio­na­lis­tisch, son­dern schließt eher den glo­ba­len An­spruch ein, an der Welt­kunst teil­zu­ha­ben.

Wer nach Mög­lich­kei­ten sucht, die Bil­der, die in die­ser Welt her­ge­stellt wer­den, zu ord­nen, stößt am Ende auf Ge­set­ze, die von der Or­na­men­tik be­stimmt wer­den, und ent­deckt, dass die Ge­set­ze der Or­na­men­tik sich ab­lei­ten als alten hand­werk­li­chen Tech­ni­ken. Seine anti-mo­der­nis­ti­schen, anti-tech­no­lo­gi­schen Af­fek­te füh­ren ihn zu einer hand­greif­li­chen Ro­man­tik, die in un­se­rer Aus­s­tel­lung am deut­lichs­ten dort durch­schlägt, wo sie sich mit einer fe­mi­nis­ti­schen Hal­tung ver­bin­det. Joyce Koz­loff, Mi­riam Scha­pi­ro und Va­le­rie Jau­don haben als Ver­tre­te­rin­nen eines ag­gres­si­ven Fe­mi­nis­mus – in Verab­re­dung – Bild­for­men ent­wi­ckelt, in denen pro­vo­zie­rend mo­no­ma­nisch, über­mü­tig, iro­nisch naiv Ge­brauchs­ge­gen­stän­de mit schmücken­der Funk­ti­on zi­tiert wer­den.

Was be­deu­tet diese Aus­ein­an­der­set­zung mit der Or­na­men­tik des Vor­de­ren und Hinn­te­ren Ori­ents, die MacCon­nel, Smyth, Scha­pi­ro, Jau­don und Koz­loff aus­zeich­net? Die markt­gän­gi­gen Stil­be­zeich­nun­gen täu­schen: „pat­tern pain­ting“ und „de­cora­ti­on art“ wol­len aus dem ver­ständ­li­chen Wunsch, sich selbst als Or­na­ment an­zu­prei­sen, ver­leug­nen, dass wir es noch ein­mal mit ge­brauchs­fer­ner, Ge­bräu­che zi­tie­ren­der Kunst zu tun haben,

Die Nähe zum Ge­brauchs­ge­gen­stand, zur Wand­de­ko­ra­ti­on, zum Be­hang, zur Ta­pe­te, zum ge­ka­chel­ten In­te­rieur zeigt aber hier den ent­schlos­se­nen Wunsch, von der aka­de­mi­schen Pra­xis des Ta­fel­bil­des ab­zu­rück­en, die Ma­le­rei, die sich sel­ber ana­ly­siert, zu des­avou­ie­ren, Farb­flä­chen in den Raum zu öff­nen, das kom­po­si­to­ri­sche Prin­zip der Rei­hung gestu­ell oder durch Farb­mo­du­la­tio­nen zu be­le­ben und eine ge­stal­te­ri­sche Spon­ta­nei­tät – glo­ba­le Kunst­ge­schichts­bil­dung vor­aus­ge­setzt – vor­zu­tra­gen. Die Mit­tel­stel­lung der ame­ri­ka­ni­schen Kunst­schu­len zwi­schen Eu­ro­pa und Ostasi­en macht die un­nach­ahm­li­che Mi­schung bild­ne­ri­scher Erb­schaf­ten ver­ständ­lich – wies eben­so ver­ständ­lich er­scheint, dass sich deut­sche Künst­ler wie Ba­se­litz z.B. mit rus­si­schen Künst­lern der Ver­gan­gen­heit (Wru­bel) be­schäf­ti­gen.

Der sinn­li­che An­sturm der Tü­cher ist ge­wal­tig. Den­noch ist nicht zu über­se­hen, dass diese er­he­ben­de Ma­ni­fes­ta­ti­on der Le­bens­freu­de mit Iro­nie ge­sät­tigt ist, flat­ternd, ver­we­hend, durch­aus nicht fest­ge­macht.

Es be­darf kei­ner Wer­wäh­nung, dass die Werke von Mi­riam Scha­pi­ro, Joyce Koz­loff, Kom MacCon­nel und Ro­bert Kus­h­ner mit denen von Mar­kus Lü­pertz und Georg Ba­se­litz, An­selm Kie­fer und Jörg Im­men­dorff nichts ge­mein haben – es sei denn jenes aus­drück­li­che Pa­thos, jene Sehn­sucht nach der Ex­pres­si­on von Größe, Exu­be­ranz und tri­um­pha­ler Er­schei­nung. Unter die­sem ge­mein­sa­men Nen­ner haben wir die Werke in un­se­rer Aus­s­tel­lung zu­ein­an­der zu ord­nen ver­sucht. Die Fra­gen, die die­ser Zu­ein­an­der­ord­nung auf­wirft, wer­den uns ein Jahr lang be­schäf­ti­gen.


Zu der Ausstellung

Zu der Aus­s­tel­lung „Die Er­fin­dung der Neuen Wil­den“ im Lud­wig Forum für in­ter­na­tio­na­le Kunst in Aa­chen 2018
1. DIE WILDEN
Sie er­schei­nen in dem Titel der Aus­s­tel­lung „Les Nou­veaux Fau­ves – Die Neuen Wil­den“ 1980 in der Neuen Ga­le­rie – Samm­lung Lud­wig. Ich bin ihr Er­fin­der. Die Be­zeich­nung FAUVES er­hiel­ten Henri Ma­tis­se und seine Freun­de 1906, als ein Kri­ti­ker im Pa­ri­ser Herbst­sa­lon eine kon­ven­tio­nel­le Frau­en­büs­te lobte: „Voilà Do­na­tel­lo au mi­lieu des fau­ves“ - und er mein­te große wilde Kat­zen, die ge­streif­ten Felle von Ti­gern. Ge­or­ges Dut­huit hat der Grup­pe lange, nach­dem sie sich durch­ge­setzt hatte, ein großes Buch ge­wid­met „Les Fau­ves“ 1949 fran­zö­sisch, eng­lisch und schwe­disch. Es ver­sam­mel­te Ar­ti­kel, die er 1929-31 in den Ca­hiers d’Art ver­öf­fent­licht hatte.

„Die Wil­den“ ist eine falsche Über­set­zung, „Die Wil­den“ wür­den fran­zö­sisch „Les Sau­va­ges“ hei­ßen. Ein TV-Do­ku­men­tar­film hieß kürz­lich „Die Wil­den in den Men­schen­zoos“ und be­rich­te­te, wie Bar­num, Ha­gen­beck und an­de­re Un­ter­neh­mer „Hei­den“, „Un­ter­menschen“, „Wil­de“ im­por­tier­ten und zur Schau stell­ten. Mit die­ser tief­schwar­zen Seite des Ko­lo­nia­lis­mus hat­ten der Eth­no­lo­ge Clau­de Lévi-Strauss und sein Buch „La Pensée Sau­va­ge – Das wilde Den­ken“ gründ­lich auf­ge­räumt. Es war 1962 er­schie­nen (1973 deutsch) und stell­te dem wis­sen­schaft­li­chen Den­ken der Mo­der­ne das my­thi­sche Den­ken zeit­ge­nös­si­scher Kul­tu­ren die­ser Welt, der streng um­ris­se­nen Kunst die bri­co­la­ge, die Bas­te­lei ge­gen­über, die sich der se­cond hand, einer 2. Qua­li­tät be­dient, um Werke my­thi­scher Struk­tu­ren zu schaf­fen. In die­sen Tex­ten fand ich mich be­stä­tigt, wenn ich Werke der „Neu­en Wil­den“ be­trach­te­te.
Der un­an­sehn­li­che bil­li­ge Ka­ta­log der Aus­s­tel­lung, in einer Auf­la­ge von 300, trug nicht dazu bei, den Titel zu ver­brei­ten. Im Haus am Wald­see hieß die Aus­s­tel­lung der Ber­li­ner der Ga­le­rie am Mo­ritz­platz 1980 „Hef­ti­ge Ma­le­rei“, die Ita­lie­ner um Bo­ni­to Oliva hies­sen „Tran­savan­guar­dia – Arte Cifra“, Eng­län­der und Ame­ri­ka­ner spra­chen von „New Image Pain­ting“, die Fran­zo­sen von „Fi­gu­ra­ti­on Libre“. Die Aus­s­tel­lung „Rund­schau Deutsch­land“ 1981 in Mün­chen und Köln zeig­te die Pro­tago­nis­ten der ein­zel­nen Zen­tren, die großen Aus­s­tel­lun­gen in Lon­don 1981 ("A new spi­rit in pain­ting"), Ber­lin 1982 („Zeit­geist“) und Kas­sel 1982 (do­ku­men­ta 7) er­zeug­ten einen Hype, der die Künst­ler und ihre Händ­ler und Samm­ler be­geis­ter­te.

„Die (Aa­che­ner)Wort­prä­gung wurde kri­tisch auf­ge­nom­men, vor allem auch bei den Künst­lern selbst, die auf ihre gänz­lich sub­jek­ti­ve Bild­spra­che und das feh­len­de über­ge­ord­ne­te Pro­gramm auf­merk­sam mach­ten und zudem eine Gleich­set­zung ihrer Ar­beit mit einer Kunst­strö­mung der Ver­gan­gen­heit ab­lehn­ten. Doch trotz aller Skep­sis eta­blier­te sich die Be­zeich­nung." (Ste­fa­nie Gom­mel)

In der Tat ist es nicht leicht, unter dem Titel In­di­vi­du­en und Grup­pen von Künst­lern zu ver­ei­nen, ohne zu der Vor­stel­lung der Wild­heit zu­rück­zu­keh­ren, die jener Kri­ti­ker 1905 in der Aus­s­tel­lung der Fau­ves emp­fand: Re­vol­ten gegen die eta­blier­te Kunst und ihren Markt, gegen die ent­sinn­lich­te, ver­geis­tig­te mi­ni­mal und con­cept art, für die Rech­te der Frau­en und der Ho­mo­se­xu­el­len, gegen den Kal­ten Krieg und die Tei­lung Deutsch­lands, für eine weltof­fe­ne Or­na­men­tik, für ero­ti­sche Be­geg­nun­gen, für eine ak­tio­nis­ti­sche, per­for­ma­ti­ve Ma­le­rei auf großen Tü­chern, für Di­let­tan­tis­mus und Häss­lich­keit, für eine emo­tio­nal ge­la­de­ne „my­thi­sche“ Ma­le­rei – kurz­um: für einen nächs­ten Pa­ra­dig­men­wech­sel nach dem ers­ten um 1968.
Abb. Ge­or­ge Braque „L´E­staque“ 1908


Zur Aus­s­tel­lung „Die Er­fin­dung der Neuen Wil­den“ im Lud­wig Forum in Aa­chen 2018

Die Ob­ses­si­on des Samm­lers

1980 er­öff­ne­te die Neue Ga­le­rie die Aus­s­tel­lung „Les Nou­veaux Fau­ves – Die Neuen Wil­den – Samm­lung Lud­wig“ und do­ku­men­tier­te sie in einem Ka­ta­log, der das Bud­get des Hau­ses spie­gel­te: etwa 200 lose DIN A 4 – Blät­ter ro­ta­print be­druckt mit Schreib­ma­schi­nen-Tex­ten und Schwarz-Weiß-Ab­bil­dun­gen, 3 Far­bab­bil­dun­gen auf Kar­tons, alle ge­ord­net in zwei be­schrif­te­ten Hül­len – Auf­la­ge 300. Die Aus­s­tel­lung zeig­te 74 Ge­mäl­de, Skulp­tu­ren von 19 Künst­lern, von Ba­se­litz 91, von Lü­pertz 43 und von Penck 106 Zeich­nun­gen. Sie do­ku­men­tier­te eine Fülle von Er­wer­bun­gen, die den in­ter­na­tio­na­len Kunst­markt be­weg­te.
Mein Vor­wort hatte den Titel „Vor­schlag zu einer Un­ter­su­chung“. Sie soll­te wei­ter­ge­hen. Der großen Über­sicht folg­ten eine Ein­zelaus­stel­lung von Clau­de Vi­al­lat und eine Grup­pen­aus­stel­lung sei­ner süd­fran­zö­si­schen Freun­de, im Ok­to­ber „A­spek­te ame­ri­ka­ni­scher Kunst der Ge­gen­wart. Neu­er­wer­bun­gen der Samm­lung Lud­wig“, die von Aa­chen nach Aal­borg in Dä­ne­mark, Hö­vi­kod­den in Nor­we­gen, Stock­holm, Mainz und Ober­hau­sen wan­der­te – mit den Wer­ken von Bas­qui­at, Bo­rofs­ky, Schna­bel und den ers­ten Stücken der Graf­fi­ti-Samm­lung.
Die Samm­lungs­prä­sen­ta­tio­nen wech­sel­ten mit selbst­stän­di­gen oder über­nom­me­nen Aus­s­tel­lun­gen: 1981 die Grup­pe Nor­mal, 1982 die Ber­li­ner mit „Im Wes­ten nichts Neues – wir malen wei­ter“ (Lud­wig er­warb ihre Werke); 1983 zeig­te der Aa­che­ner Samm­ler Hugo seine neues­ten Er­wer­bun­gen ita­lie­ni­scher Künst­ler der arte cifra-Grup­pe, ihr folg­ten eine Ein­zelaus­stel­lung des Ös­ter­rei­chers At­ter­see, eine klei­ne Prä­sen­ta­ti­on des Aa­che­ner Fo­to­gra­fen und Samm­lers Wil­helm Schür­mann mit Mar­tin Kip­pen­ber­ger „Song of Joy“, 1984
eine Ein­zelaus­stel­lung des Süd­fran­zo­sen Alain Clé­ment und 1987 eine an­de­re des Ber­li­ners Hel­mut Mid­den­dorf.
Seit 1983 wan­der­ten die „Nou­veaux Fau­ves“ der Samm­lung Lud­wig:
„Der Stil des Or­na­ments. De­ko­ra­ti­ve Kunst aus der Samm­lung Lud­wig, Aa­chen“in den Hofer Herbst und in das Mu­se­um De Zon­ne­hof in Amers­fort und seit 1984 eine Aus­wahl der deut­schen „New Ex­pres­sio­nists“in das Hara Mu­se­um in Tokyo und, ver­mit­telt von den Goe­the-In­sti­tu­ten, in die Mu­seen von Lyon, Tou­lou­se, Mar­seil­le und Nan­tes, nach Amers­fort und in das Pro­vin­zial­mu­se­um in Has­selt. Ich habe die 44 Ge­mäl­de und 1 Skulp­tur zu allen Orten be­glei­tet – wie zuvor an­de­re Grup­pen zu den Orten zwi­schen Lon­don und Te­her­an, deren Be­woh­ner die Fo­to­rea­lis­ti­schen Werke der Samm­lung Lud­wig be­wun­der­ten.
Der Er­werb der Samm­lung der „Neu­en Wil­den“ folg­te dem 1. Block der 17 Ge­mäl­de, 3 Skulp­tu­ren und 62 Gra­fi­ken aus der DDR, die die Neue Ga­le­rie 1979 ge­zeigt hatte, und 1984 or­ga­ni­sier­ten wir die Aus­s­tel­lung „A­spek­te der so­wje­ti­schen Kunst heute“: 97 Ge­mäl­de, 16 Skulp­tu­ren und 45 Gra­fi­ken. Sie wan­der­te nach Wien, Re­gens­burg, Lü­beck, Hö­vi­kod­den, Til­burg, Saar­brücken und Mainz.
Es ist heute nicht leicht sich vor­zu­stel­len, wie die Ob­ses­si­on eines Man­nes die eu­ro­päi­sche Kul­tur­land­schaft, ihre Mu­seen und ihre Me­di­en be­weg­te und wel­che Mit­tel ihm selbst dazu be­reit­stan­den.
Der Samm­ler Peter Lud­wig lebte und ar­bei­te­te als stadt­be­kann­ter Un­ter­neh­mer und Samm­ler in Aa­chen, nahm als Bür­ger­be­auf­trag­ter an Kul­turaus­schuss-Sit­zun­gen des Stadt­ra­tes teil, hatte das Alte Kur­haus für eine Prä­sen­ta­ti­on sei­ner Sam­mel­tä­tig­keit vor­ge­schla­gen und mich als Lei­ter eines neu­ar­ti­gen Mu­se­ums aus Köln ge­holt. Es soll­te eine stän­di­ge do­cu­men­ta bie­ten. Diese Ver­bin­dung er­klärt die enge Ver­flech­tung der Aus­s­tel­lungs­po­li­tik des Hau­ses mit dem stän­di­gen Zuf­luss von Neu­er­wer­bun­gen. Sie er­klärt auch die Grün­dungs­ge­schich­ten der Lud­wig-Mu­seen in Ko­blenz, Saar­louis, Ober­hau­sen, Wien, Bu­da­pest, St. Pe­ters­burg und Pe­king, die aus Be­stän­den der Neuen Ga­le­rie aus­ge­stat­tet wur­den. Ins­ge­samt er­warb Lud­wig in die­sen we­ni­gen Jah­ren 248 Ge­mäl­de,
29 Skulp­tu­ren und 694 Gra­fi­ken.
Abb. Bas­qui­ar „Is­ht­ar“ 1983


Zu der Aus­s­tel­lung „Die Er­fin­dung der Neuen Wil­den“ im Lud­wig Forum für in­ter­na­tio­na­le Kunst in Aa­chen 2018

Ralf Wink­ler, alias A. R. Penck alias Mike Ham­mer ist unter den „Neu­en Wil­den“ der Aus­s­tel­lung in der Neuen Ga­le­rie – Samm­lung Lud­wig in Aa­chen sich der Wil­des­te, wenn Wild be­deu­tet, gegen eine be­drücken­de Ge­sell­schafts­ord­nung und ihre äs­the­ti­schen Pa­ra­dig­men zu re­bel­lie­ren. Seit sei­ner Ju­gend in Dres­den hat der Ver­band der bil­den­den Künst­ler der DDR ihm den Zu­gang zu den Hoch­schu­len und die Mit­glied­schaft ver­wei­gert, so dass er sich im Un­ter­grund ent­wi­ckeln muss­te – als Maler, Bild­hau­er, Jazz-Mu­si­ker, Schrift­stel­ler. Als er im Wes­ten be­kannt wurde, sam­mel­ten wir seine Schall­plat­ten, und die Köl­ner Ga­le­rie Wer­ner ver­kauf­te seine großen Bil­der, die in falschen Aus­puff­roh­ren ge­rollt über die Gren­ze kamen. Als wir die of­fi­zi­el­le Kunst der DDR der Samm­lung Lud­wig aus­stell­ten, schrieb er dem 1. Vor­sit­zen­den Willi Sitte einen ge­har­nisch­ten Brief, in dem es heißt: „Willst Du, dass ich den Weg von Bier­mann, Faust, Kunze, Pan­nach, Fuchs oder an­de­ren gehe?“ 1980 wurde aus­ge­bür­gert, und wir be­geg­ne­ten uns in Köln. 1985 fei­er­ten wir ihn in der Neuen Ga­le­rie mit der Ver­lei­hung des Kunst­prei­ses Aa­chen und stell­ten die 66 „Stan­dart-Mo­del­le“ von 1973/74, klei­ne Skulp­tu­ren aus Kar­ton, Holz und ver­schie­de­nen Ma­te­ria­li­en im Ball­saal vor einem sei­ner größ­ten Lein­wand­bil­der aus. Zur Feier gab er mit Mar­kus Lü­pertz und Frank Wollny ein klei­nes Mit­ter­nachts­kon­zert.
In der Aus­s­tel­lung der Neuen Wil­den konn­ten wir 106 Zeich­nun­gen von 1966 bis 1977 und 5 Bil­der zei­gen, dar­un­ter „Hin­ter Leo Ber­ry­bo­ra da­hin­ter“ von 1975, ein Keu­len­schlag gegen die Of­fi­zi­el­len der DDR, ein großer „Schat­ten­riss“, Dar­stel­lung eine Ze­re­mo­nie, in der ein Nie­der­kni­en­der von einer Frau ge­seg­net wird und ein an­de­rer sich ver­mummt in ein Ge­s­penst ver­wan­delt – ein an­ony­mes Graf­fi­to? Eine vor­zeit­li­che Wand­ma­le­rei? Mit sol­chen As­so­zia­tio­nen, die über die eu­ro­päi­sche Kul­tur hin­aus­wei­sen, scheint es mir der Ka­te­go­rie des Wil­den am bes­ten zu ent­spre­chen.
„Die Er­fin­dung der Neuen Wil­den“ im Lud­wig Forum für in­ter­na­tio­na­le Kunst in Aa­chen.
P.S. Die P.R. In­dus­trie schafft Mar­ken wie 4711, ODOL oder UHU zu­erst und dann die Ar­ti­kel, die Kunst­ge­schichts­schrei­bung be­zeich­net Stil­grup­pen fast immer im Nach­hin­ein.


Zu der Aus­s­tel­lung „Die Er­fin­dung der Neuen Wil­den“ im Lud­wig Forum für in­ter­na­tio­na­le Kunst in Aa­chen 2018
Das „Café Deutsch­land“
In der Aus­s­tel­lung „Les Nou­veaux Fau­ves – Die Neuen Wil­den“ in der Neuen Ga­le­rie – Samm­lung Lud­wig 1980 zog das große „Café Deutsch­land“ Jörg Im­men­dorffs zahl­rei­che Be­su­cher an. Lud­wig hatte es kurz nach sei­ner Ent­ste­hung 1978 er­wor­ben, jetzt kam es aus einer Ein­zelaus­stel­lung des Ba­se­ler Kunst­mu­se­ums nach Aa­chen (jetzt im Köl­ner Mu­se­um Lud­wig). Ei­ni­ge hier kann­ten Im­men­dorff, seit er 1967 in der Ga­le­rie Aa­chen seine Ak­ti­on VIETNAM mit Bil­dern aus der „Baby-Sphä­re“ vor­ge­führt hatte. „Café Deutsch­land“ er­zählt: von Penck, dem Freund hin­ter dem Bran­den­bur­ger Tor, dem Im­men­dorff seine Hand durch ein Back­stein­mo­dell der Mauer ent­ge­gen­streckt (der Ungar Gabor Al­tor­jay hatte sol­che Mau­er­stücke, durch­setzt mit Fernglä­sern, in den 60er Jah­ren in Köln aus­ge­stellt, eins stand in mei­ner Woh­nung), von Im­men­dorffs Frau, die Schmidt und Honne­cker, die an der deut­schen Fahne malen, Hand­werks­zeug bringt, vom tan­zen­den Künst­ler unter dem Adler, der in den Kral­len ein Ha­ken­kreuz hält, von Ber­told Brecht, der in die nächt­li­che Szene hin­ab­schaut, von Sze­nen der Un­ter­drückung auf ge­schnitz­ten Pfei­lern – eine neu­zeit­li­che „Nacht­wa­che“ und po­li­ti­sches Ma­ni­fest, be­glei­tet von einem „Auf­ruf an die West­deut­schen und eu­ro­päi­schen Künst­ler: Be­han­delt in euren Wer­ken Fra­gen des All­ta­ges, Un­ge­rech­tig­kei­ten, die Frage dro­hen­der Kriegs­ge­fahr durch zwei im­pe­ria­lis­ti­sche Mäch­te, po­li­ti­sche Un­ter­drückung – setzt euch für Frie­den ein, denn fällt die erste Bombe, bleibt keine Staf­fe­lei tro­cken, euer Jörg Im­men­dorff, Mai 1978.“
Re­na­to Gut­tu­so, des­sen „Mai 68“ lange in der Neuen Ga­le­rie hing, hatte mit dem Bild „Café Greco“ Im­men­dorff 1977 an­ge­sto­ßen, aber als er die Serie be­gann, hatte er die An­re­gung ver­ges­sen. Unter allen Bil­dern der Aus­s­tel­lung dräng­te sich die­ses große, nächt­lich leuch­ten­de Ge­mäl­de am stärks­ten in das po­li­ti­sche Selbst­be­wusst­sein der Epo­che – ein ex­em­pla­ri­scher Nou­veau Fauve.


Zu der Aus­s­tel­lung „Die Er­fin­dung der Neuen Wil­den“ im Lud­wig Forum für in­ter­na­tio­na­le Kunst in Aa­chen 2018

„Die Neuen Wil­den“ 1980
In der Aus­s­tel­lung „Les Nou­veaux Fau­ves – Die Neuen Wil­den“ in der Neuen Ga­le­rie – Samm­lung Lud­wig hing schon neben „Ala­richs Grab“ von 1975 und „Gro­ße Ei­sen­faust Deutsch­land“ das Bild „Wege der Welt­weis­heit II“ von 1977 – eine „wil­de“, un­ge­ord­ne­te Tafel von deut­schen Köp­fen – Kant, von Sch­lief­fen, Höl­der­lin, Flex, Kleist, Hei­deg­ger, Molt­ke, Schla­ge­ter und viele mehr – in Holz­schnit­ten an­ein­an­der­ge­setzt, zum Teil roh über­malt und mit Farb­sch­lie­ren ver­bun­den, die das Bild wie Ar­te­ri­en durch­lau­fen. An­selm Kie­fer ar­bei­te­te mit ir­ri­tie­ren­den Pa­thos­for­meln an der zeit­ge­nös­si­schen Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung. Er blieb auch spä­ter der Aus­drucks­stär­ke von Ma­te­rial­col­la­gen ver­bun­den, fügte Stroh und Blei ein, schuf drei­di­men­sio­na­le Ob­jek­te und En­vi­ron­ments.
Neben den frü­hen Bil­dern würde ich gern „Pain­ting wi­thout Mercy“ (Malen ohne Gnade) von 1981 des New Yor­ker Neo­ex­pres­sio­nis­ten Ju­li­an Schna­bel sehen, eine der großen, schwe­ren Bild­ta­feln, die mit zer­bro­che­nen Tel­lern be­klebt waren. Für die „beat ge­ne­ra­ti­on“ setz­te er das große Por­trät des Wil­liam S. Bur­roughs und das klei­ne des Ge­or­ge Wa­shing­ton am Rand neben ein Pin-Up und eine Kreu­zi­gung. Gna­den­los zu malen heißt hier die Schön­heit einer Mal­flä­che zu zer­stö­ren und das Bild in eine As­sembla­ge zu er­wei­tern. Lud­wig er­warb spä­ter das mo­nu­men­ta­le Bild, das Schna­bel in Spa­ni­en dem Igna­ti­us von Lo­yo­la wid­me­te. In der Aus­s­tel­lung 2018 ist Schna­bel als Ame­ri­ka­ner nicht ver­tre­ten, aber sie zeigt die 3 x 6 m große Tafel des Tsche­chen Jiri Georg Do­k­ou­pil von 1981, ein Re­lief aus fest­ge­kleb­ten ge­schlos­se­nen Bü­chern, ge­wich­tig und mäch­tig, sein ma­te­ri­el­les Pa­thos durch Ge­sich­ter er­gänzt, die der Maler in den rei­chen Braun­tö­nen durch weiße und schwar­ze Lich­ter als auf­tau­chen­de Er­schei­nun­gen skiz­ziert hat: „Gott, zeige mir Deine Eier“ heißt pro­vo­kant das Ab­stand for­dern­de Bild.
Der großen Geste der ab­strak­ten Ex­pres­sio­nis­ten (Bar­nett Ne­w­man, Jack­son Pol­lock) setzt diese Ge­ne­ra­ti­on die Pa­thos­for­meln my­thi­scher Spra­che ent­ge­gen und füt­tert sie zu­wei­len mit einem Ober­ton, der die Iro­nie streift.
Abb. Kie­fer „Wege der Welt­weis­heit“ 1977 – Schna­bel „ Pain­ting wi­thout Mercy“ 1981 – Do­k­ou­pil „Gott, zeige mir Deine Eier“ 1981


Zu der Aus­s­tel­lung „Die Er­fin­dung der Neuen Wil­den“ im Lud­wig Forum für in­ter­na­tio­na­le Kunst in Aa­chen 2018
Tho­mas La­ni­gan-Schmidt, der Re­vo­lu­tio­när
Die „Neu­en Wil­den“, die ich 1980 in der Neuen Ga­le­rie aus­stell­te, die nicht den aka­de­mi­schen Re­geln folg­ten, die nicht gemäß bür­ger­li­chen Ord­nun­gen leb­ten, die nicht an das glaub­ten, was die meis­ten glaub­ten, waren Re­vo­lu­tio­näre ver­schie­de­ner Art. Tho­mas La­ni­gan-Schmidt ist bis heute in New York be­rühmt als Teil­neh­mer der Sto­ne­wall Re­bel­li­on im Juni 1969, einer Serie von spon­ta­nen, ag­gres­si­ven De­mons­tra­tio­nen der gay com­mu­ni­ty in Green­wich Vi­la­ge. Mit ihr be­gann die welt­wei­te Eman­zi­pa­ti­on der LGBT.
Die „I­co­no­sta­sis“, die ich 1978 in der Holly So­lo­mon Ga­le­rie stau­nend be­trach­te­te und in die Aa­che­ner Aus­s­tel­lung holte, be­steht aus Cel­lo­phan, Sta­ni­ol, Ein­pack­pa­pier auf Holz­rah­men, mit Acryl be­malt. Sie war ein Faust­schlag in die Kon­ven­tio­nen einer Ga­le­rie mo­der­ner Kunst, eine Pro­vo­ka­ti­on aller aka­de­mi­schen Maler, und noch 2012 nann­te PS 1 seine Re­tro­spek­ti­ve „Ten­der Love among the Junk“ (Zärt­li­che Liebe im Müll). Der Anti-Künst­ler war ein Ei­gen­bröt­ler wie der Vor­gän­ger, den er ver­ehr­te: James Hamp­ton, ein Son­der­ling in Wa­shing­ton, des­sen „ Thro­ne of the Third Hea­ven of the Na­ti­ons’ Mill­en­ni­um Ge­ne­ral As­sem­b­ly“, ein re­li­gi­öser „Thron­saal“ aus Ab­fall nach sei­nem Tod in einer Ga­ra­ge auf­ge­fun­den wurde, viel von sich reden mach­te und heute im Smit­h­so­ni­an Mu­se­um steht – wie die „I­co­no­sta­sis“ im Lud­wig Forum in Aa­chen. Bei­den waren ihre Ate­liers Sa­kris­tei­en des christ­li­chen Glau­bens; sie un­ter­lie­fen die Stan­dards der zeit­ge­nös­si­schen „heid­nischen“ Kunst, ihrer Kri­tik und ihres Han­dels. Sie schu­fen eine neue „bi­b­lia pau­pe­rum“ – und die Künst­ler, Kri­ti­ker und Samm­ler be­gan­nen sie zu lie­ben. Der Maler Ro­bert Kus­h­ner lobte spä­ter sei­nen küh­nen, de­gen­schar­fen Witz, seine Sub­ver­si­vi­tät und opu­len­te Schön­heit. Unter den Ar­gu­men­ten, die den Künst­lern der 60er Jahre dienten, um zu re­vol­tie­ren, neue Pa­ra­dig­men der Kunst und des mensch­li­chen Zu­sam­men­le­bens zu for­dern, ist das des Hei­li­gen Fran­zis­kus si­cher das un­ge­wöhn­lichs­te.
Jetzt zeigt das Lud­wig Forum die Aus­s­tel­lung „Die Er­fin­dung der Neuen Wil­den“ und er­gänzt die Aus­s­tel­lung „Pat­tern Pain­ting“. Beide zu­sam­men und die Fran­zo­sen von sup­port sur­face bil­de­ten 1980 die Aus­s­tel­lung „Les Nou­veaux Fau­ves – Die Neuen Wil­den“.
Abb. Tomas La­ni­gan-Schmidt „I­co­no­sta­sis“


Zur Aus­s­tel­lung „Die Er­fin­dung der Neuen Wild­sen“ im Lud­wig Forum für in­ter­na­tio­na­le Kunst in Aa­chen 2018

Pat­tern Pain­ting

Brad Davis, Tina Gi­rouard, Va­le­rie Jau­don, Joyce Koz­loff, Ro­bert Kus­h­ner, Tho­mas La­ni­gan-Schmidt, Kim McCon­nel, Mi­riam Scha­pi­ro, Ken­dall Shaw, Ned Smyth, Ro­bert Za­ka­nitch und Joe Zu­cker waren in der Aus­s­tel­lung „Les Nou­veaux Fau­ves - Die Neuen Wil­den“ der Neuen-Ga­le­rie – Samm­lung Lud­wig 1980 die Ver­tre­ter des Pat­tern Pain­ting, und Ro­bert Kus­h­ner bot zur Er­öff­nung eine feine belly-dance-Per­for­man­ce zu ma­rok­ka­ni­scher Musik in ori­en­ta­li­schen Schlei­ern. Ihre Werke der Samm­lung Lud­wig bil­den auch heute, 2018, den Kern der Aus­s­tel­lung des Lud­wig Forums „Pat­tern and De­cora­ti­on“. Die ak­tu­el­le Aus­s­tel­lung des MAMCO in Genf trägt den ir­ri­tie­ren­den Titel „Pat­tern, De­cora­ti­on & Crime“, um zu be­to­nen, wie sehr die Be­tei­lig­ten in den sieb­zi­ger Jah­ren die Stan­dards der Ta­fel­ma­le­rei zer­bro­chen haben, indem sie Ta­pe­ten, be­druck­te Ge­we­be, Patchwork Quilts, die Or­na­men­tik me­xi­ka­ni­scher Tex­ti­li­en, tür­ki­scher Sti­cke­rei­en und Ka­cheln, ira­ni­scher Mi­nia­tu­ren und ja­pa­ni­scher Holz­schnit­te ab­sichts­voll ver­mischt in ihre Bil­der ein­führ­ten.
Joyce Koz­loff und Mi­riam Scha­pi­ro ge­hör­ten zu den kämp­fe­ri­schen Fe­mi­nis­tin­nen um die Kunst­his­to­ri­ke­rin Judy Chi­ca­go. Sie be­ton­ten in ihren Kom­men­ta­ren zu den Ar­bei­ten die Pro­gram­ma­tik, die Gren­zen zwi­schen der männ­lich be­setz­ten FREIEN KUNST und der weib­lich be­setz­ten ANGEWANDTEN KUNST zu über­win­den. In der WOMEN ART REVOLUTION, die Lynn Hers­h­man Lee­son in ihrem Film 2010 dar­stellt, ge­hö­ren sie zu den­je­ni­gen, die wie die Fran­zo­sen der sup­ports sur­fa­ces Be­we­gung aus den Mu­seen in den öf­fent­li­chen Raum, von der Kunst in das De­sign dräng­ten. Der Selbst­ge­nüg­sam­keit der ame­ri­ka­ni­schen Mi­ni­mal Art stell­ten sie die sinn­li­che Fülle der in­ter­kon­ti­nen­ta­len Or­na­ment­ge­schich­te ge­gen­über und ste­hen am Be­ginn einer neuen emo­tio­na­len Ma­le­rei. Ich lern­te diese Grup­pe in der Folge Peter Lud­wigs durch die New Yor­ker Ga­le­ris­tin Holly So­lo­mon ken­nen und bin froh, dass die Aa­che­ner Samm­lung Lud­wig als ein­zi­ges Mu­se­um in Eu­ro­pa diese Erb­schaft be­wahrt.
Abb. Mi­riam Scha­pi­ro „Eu­ry­di­ce“ 1972
Abb. Titel W.A.R.



Zu der Aus­s­tel­lung „Die Er­fin­dung der Neuen Wil­den“ im Lud­wig Forum für in­ter­na­tio­na­le Kunst in Aa­chen 2018“

Die Nou­veaux Fau­ves – Neuen Wil­den 1980 in der Neuen Ga­le­rie Samm­lung Lud­wig waren an­de­re als die der ak­tu­el­len Aus­s­tel­lung. Sie haben den Titel her­bei­ge­führt.
Zum Bei­spiel Louis Vi­al­lat, der 1968 mit Freun­den die Grup­pe SUPPORTS SURFACES grün­de­te. Es lag nahe, dass mich von Aa­chen aus die Fran­zo­sen in­ter­es­sier­ten;1974 hatte die Neue Ga­le­rie die „nou­vel­le pein­ture en Fran­ce. pra­ti­ques/ théo­ries“ ge­zeigt. 1980 hin­gen die Bil­der von Vi­al­lat neben denen von Ro­bert Kus­h­ner, und 1981 in „Die „Neu­en Wil­den 2. 6 Fran­zo­sen“, be­häng­te und be­leg­te Vi­al­lat den gan­zen Ball­saal. (2014 haben ihn die Ro­sto­cker wie­der­ent­deckt!)
SUPPORTS-SURFACES stell­te den Keil­rah­men eben­so in Frage wie Lein­wand, Pin­sel, Pa­let­te und Öl­far­be, re­bel­lier­te gegen die Kon­ven­tio­nen der Aus­s­tel­lungs­or­te, be­nutz­te All­tags­far­ben wie Frucht­säf­te und Schwer­öl, Ju­te­sä­cke, Lkw-Plane, Tisch­de­cken. Vi­al­lat malte nicht, son­dern stem­pel­te mit einem ab­ge­run­de­ten recht­e­cki­gen Modul alle sur­fa­ces über ihre Rän­der hin­aus und häng­te, legte und sta­pel­te sie. Der alte Fauve Ma­tis­se der Sche­ren­schnit­te hätte in die Hände ge­klatscht. Die Grup­pe, un­ter­stützt und be­glei­tet von dem Dich­ter und Kri­ti­ker Mar­ce­lin Pley­net, be­weg­te sich an den Mu­seen vor­bei auf öf­fent­li­chen Plät­zen und for­der­te eine Kunst­pra­xis, die über die tra­di­tio­nel­len Orte hin­weg jene Men­schen er­rei­chen würde, die ihr nicht be­geg­ne­ten. Auch sie war be­wegt vom „Mai 68“ und hat den re­vo­lu­tio­nären Im­puls in die Kunst­hoch­schu­len Frank­reichs ge­tra­gen. Es ver­steht sich, dass alle Werke der Grup­pe ab­strakt waren, pat­tern und de­cora­ti­on ver­han­del­ten und dass ihre Au­to­ren sich vor Mor­ris Louis, Ken­neth No­land und Mark Ro­th­ko ver­beug­ten.
Als deut­scher Kom­missar der Pa­ri­ser Bi­en­na­le des Jeu­nes nahm ich in den 70er Jah­ren an ihren Be­we­gun­gen teil, und Peter Lud­wig er­warb meh­re­re ihrer Werke in den Ga­le­ri­en Four­nier und Tem­plon. Nach der Er­öff­nung des neuen Cen­tre Pom­pi­dou 1977 „leuch­te­te“ Paris. Als wir das Mu­se­um Lud­wig in Ko­blenz grün­de­ten, soll­te dort ein Zen­trum fran­zö­si­scher Kunst ent­ste­hen, und die meis­ten fran­zö­si­schen Werke der Samm­lung wan­der­ten aus Aa­chen dort­hin.
Abb. Vi­al­lat „Ohne Titel“ 1978
Abb. Vi­al­lat Ein­zelaus­stel­lung im Ball­saal der Neuen Ga­le­rie 1983



Zu der Aus­s­tel­lung „Die Er­fin­dung der Neuen Wil­den“ im Lud­wig Forum 2018

WILD STYLE
Um 1970 be­gan­nen Ju­gend­li­che aus dem „Ghet­to“ der Bronx mit Spray Guns TAGS, er­fun­de­ne Si­gna­tu­ren in exo­ti­schen Schrif­ten, auf die Wa­g­ons der New Yor­ker U-Bahn zu schrei­ben – ein Prinz, der in einer Nacht im Depot einen Wagen, ein König, der einen Zug schaff­te. 1974 zeig­te mir der New Yor­ker Künst­ler Gor­don Matta-Clark eine 20 m lange Pho­to­gly­phe eines be­mal­ten Sub­way-Zuges. Das war die erste Graf­fi­ti-Aus­s­tel­lung der Neuen Ga­le­rie: „Die be­mal­te Un­ter­grund­bahn“. Wir zeig­ten dem Pub­li­kum den Film „Wild Style“ von Charles Ahearn, der 1983 der New Yor­ker Graf­fi­tii-, Hip-Hop- und Rap­per-Szene ein Denk­mal ge­schaf­fen hatte.
Die Graf­fi­ti-Wri­ter, ver­folgt von den Ord­nungs­kräf­ten, schaff­ten den Sprung in den Kunst­marlt. Peter Lud­wig kauf­te die Bil­der von CRASH, DAZE, FUTURA 2000, LADY PINK, NOC 167, LEE Qui­no­nes („Voi­ce oft he Ghet­to“) in der re­spek­ta­blen Ga­le­rie von Sid­ney Janis, und im glei­chen Jahr hin­gen sie neben Wer­ken von Jean-Mi­chel Bas­qui­at, Jo­na­than Bo­rofs­ky und Ju­li­an Schna­bel und wan­der­ten von Aa­chen nach Dä­ne­mark und Nor­we­gen.
Nir­gend­wo ist deut­li­cher de­mons­triert wor­den, dass die Sub­kul­tur, die junge Maler, Mu­si­ker, Tän­zer, Dich­ter, Schau­spie­ler schaf­fen, schnell in eine er­mü­de­te Kul­tur­sze­ne ein­drin­gen, sie be­le­ben und von ihr in­te­griert wer­den kann. Die Spray Gun er­setz­te den Pin­sel in einer glo­ba­len Street Art, die die Wände der Stra­ße dem Mu­se­um vor­zog. Der Pro­test gegen eine häss­li­che Welt wurde ver­stan­den, ufer­te aus und ver­san­de­te. Die New Yor­ker Sub­way wurde ge­rei­nigt, die Künst­ler wur­den zum Mi­li­tär­dienst ein­ge­zo­gen. Aber Graf­fi­ti lebt – glo­bal – und wird nicht über­all ge­dul­det.
Abb. Lee Qui­no­nes „Voi­ce oft he Ghet­to“ 1984


Zu der Aus­s­tel­lung „Die Er­fin­dung der Neuen Wil­den“ im Lud­wig Forum für in­ter­na­tio­na­le Kunst in Aa­chen 2018
FIGURATION LIBRE
In dem Fi­scher­dorf Sète am Mit­tel­meer be­such­te ich 1984 die Künst­ler­fa­mi­lie di Rosa, die eif­rig am jun­gen Ruhm des Hervé mit­ar­bei­te­te. Sie hatte einen Laden in Paris er­öff­net, um die zahl­rei­chen Ar­bei­ten – Bil­der, Zeich­nun­gen, Möbel, Kera­mi­ken – an­zu­bie­ten. Ich hüte heute noch ei­ni­ge Tel­ler. Sie tra­ten mit Ro­bert Com­bas und Fran­cois Bois­rond als FIGURATION LIBRE auf und hoben sich von ihren Zeit­ge­nos­sen durch die hem­mungs­lo­se Pro­duk­ti­on von bun­ten, lo­cker kom­po­nier­ten und schnell ge­mal­ten comic-Pa­ra­phra­sen ab. Es schi­en leicht, den WILD STYLE der New Yor­ker Graf­fi­ti Wri­ter hier wie­der zu fin­den, wenn­gleich die Fran­zo­sen den engen Rah­men der Kunst nie über­schrit­ten und von den Pa­ri­ser Ga­le­ri­en gern auf­ge­nom­men wur­den. Im­mer­hin brach­ten sie in der Brei­te ihrer Pro­duk­ti­on und ihrer An­ge­bo­te eine fre­che Gleich­gül­tig­keit und Liebe zu Kauf­häu­sern mit, die ihre Kunst an den Rand der Sub­kul­tur trans­por­tier­ten. So ge­lang­ten ihre Bil­der auch in jenen Be­reich der Samm­lung Lud­wig, der die „Neu­en Wil­den“ in der Neuen Ga­le­rie sicht­bar mach­te. Soll­te das Haus eine stän­di­ge do­cu­men­ta sein, so ge­hör­ten sie dazu. Im Samm­lungs­ka­ta­log „Kunst heute in Frank­reich. Samm­lung Lud­wig Aa­chen“ 1987 er­gän­zen sie Jean Mi­chel Al­be­ro­la, Jean Charles Blais, Hélè­ne Del­prat, Gérard Garous­te, Pier­re Ni­vol­let, ihren Groß­va­ter Jean Du­buf­fet und die Bil­der der Grup­pe SUPPORTS SURFACES.
In den ers­ten fünf Jah­ren der 80er nah­men sie teil am HYPE aller Kunst­händ­ler und – samm­ler, die der „Hun­ger nach Bil­dern“ um­trieb. Nach den enor­men Preis­s­tei­ge­run­gen der pop art und des Hyper­rea­lis­mus waren ihre Werke preis­wert. We­ni­ge haben den HYPE er­folg­reich über­lebt.
Abb. Ro­bert Com­bas „Feu­er­schlu­cker“ 1981


Zu der Aus­s­tel­lung „Die Er­fin­dung der Neuen Wil­den“ im Lud­wig Forum für in­ter­na­tio­na­le Kunst in Aa­chen 2018
„Die Neue deut­sche Welle“
„klatsch in die hände/ und tanz den adolf hit­ler/und tanz den mus­so­li­ni/ und jetzt den jesus chris­tus/ klatsch in die hände/ und tanz den kom­mu­nis­mus“. 1981 kre­i­er­te die Grup­pe Deutsch-ame­ri­ka­ni­sche Freund­schaft DAF die­ses Lied, und der DJ Mar­kus Oeh­len legte es im Ra­tin­ger Hof in Düs­sel­dorf auf. Alle waren in Car­men Kno­ebels Künst­ler­knei­pe neben der Aka­de­mie zu Hause. Mit sei­nem Bru­der Al­bert, Im­men­dorff, Bütt­ner, Kip­pen­ber­ger und Penck pro­du­zier­te Mar­kus selbst die Plat­te „Ra­che der Erin­ne­rung“. Jür­gen Tei­pel hat die Szene in sei­nem Doku-Roman 2001 be­schrie­ben „Ver­schwen­de Deine Ju­gend“. Da­mals (1984) malte Al­bert Oeh­len 2 Fas­sun­gen sei­nes Hit­ler-Bil­des (140 x 140 cm), das in den Aus­s­tel­lun­gen Rat­lo­sig­keit her­vor­rief. Kann einer so eine schand­be­las­te­te Ikone sa­ti­risch aus­he­beln? Wird er nicht selbst zum Fa­schis­ten? Der Neuen Deut­schen Welle in ihrer ni­hi­lis­ti­schen no fu­ture Stim­mung waren Be­zü­ge zu na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Per­so­nen und In­hal­ten („B­litz­krieg“, „SS Hit­ler“, „A­dolf und Eva“) ge­läu­fig. Sie spiel­ten sar­kas­tisch mit ihnen. Nazi-Rock­bands mit ein­deu­ti­gen Aus­sa­gen wie „Stör­kraft“ wur­den erst in den 90er Jah­ren be­kannt. So blieb nichts An­de­res mög­lich, als das Bild Oeh­lens auch als iro­ni­sche Pa­ra­phra­se zu be­trach­ten, in der einer das, was er dar­stellt, ent­wer­tet, ver­lacht, ver­nich­tet. Nach den Aus­ein­an­der­set­zun­gen Kie­fers und Ba­se­litz´s mit dem Hitler­gruß in den 60er und 70er Jah­ren und vor den Va­ri­an­ten, die Jo­na­than Meese in den letz­ten Jah­ren ge­bo­ten hat, ist frei­lich Oeh­lens Bild die dras­tischs­te An­eig­nung einer all­be­kann­ten Per­son und wird darum nicht auf­hö­ren, wi­der­strei­ten­de Re­ak­tio­nen zu er­zeu­gen. Eine Ka­thar­sis zu er­rei­chen hat der Maler wahr­schein­lich nicht be­ab­sich­tigt.
Abb. Al­bert Oeh­len „A­dolf Hit­ler“ 1984



Zur Aus­s­tel­lung „Die Er­fin­dung der Neuen Wil­den“ im Lud­wig Forum für in­ter­na­tio­na­le Kunst in Aa­chen
„Street Art“
Seit 1974 hing Re­na­to Gut­tu­sos großes His­to­ri­en­bild „Mai 68“ in der Neuen Ga­le­rie – Samm­lung Lud­wig in Aa­chen. Die Pa­ri­ser Re­vol­te er­zeug­te ein Erd­be­ben, das auch dort ge­spürt wurde. Erste Haus­be­set­zun­gen - Erste Graf­fi­ti-Aus­s­tel­lung: die Pho­to­gly­phe Gor­don Matta-Clarks mit einem gan­zen Sub­way-Zug mit Spray­gun-Tags be­deckt. 1978 schreck­ten die Aa­che­ner vor großen far­big ge­mal­ten, be­schrif­te­ten Wand­bil­dern in ver­schie­de­nen Stra­ßen auf: „Ir­ren­haus“, „Angst“, „Es herrscht immer Krieg in den Fa­bri­ken“ und, 1979, „Der Tod ist ein Meis­ter aus Deutsch­land“. Wer ar­bei­te­te dort im Un­ter­grund? End­lich ent­deck­te man das Ma­ler­paar unter den Be­set­zern des Jo­han­nes-Höver-Hau­ses in der Apsis der Ka­pel­le an sei­nem Rie­sen­bild „Da­vid und Go­liath“. Es ar­bei­te­te nachts recht­los und ver­folgt wie die Graf­fi­ti-Wri­ter, malte keine Sig­nets, keine Tags, keine per­sön­li­chen Bot­schaf­ten, son­dern folg­te An­stö­ßen aus dem so­zia­len Raum, äu­ßer­te Alb­träu­me über die Ängs­te der Schü­ler, der Schwu­len, em­pör­te sich über die Neo­na­zis, den gras­sie­ren­den Fa­schis­mus und die Ge­fah­ren der Atom­ener­gie. Die kan­ti­ge gra­fi­sche Bild­spra­che, die an Bil­der von Guit­tu­so und „Gu­er­ni­ca“ von Pi­cas­so er­in­nert, wurde zum Mar­ken­zei­chen des einen, die spie­le­ri­schen, kur­ven­rei­chen Li­ni­en kenn­zeich­ne­ten den an­de­ren. Im Pro­jekt der „Nou­veaux Fau­ves –Neu­en Wil­den“ soll­ten sie eben­so ihren Platz fin­den wie der „Wild Style“ der New Yor­ker.1984 stell­te die Neue Ga­le­rie 58 ihrer Fo­to­gra­fi­en der rea­li­sier­ten Werke aus, fei­er­te die noch an­ony­men Au­to­ren unter ihren Ku klux Kan-Ka­pu­zen – und er­warb die Fotos für die Samm­lung.
Klaus Paier und Josef Stöhr ver­die­nen unter den Neuen Wil­den der frü­hen 80er Jahre eben­so einen Platz, auch wenn sie nicht wie Lee Qui­no­nes in New York, son­dern in Aa­chen ge­ar­bei­tet haben. Beide sind Teil einer „Street Art“-Be­we­gung, die sich jen­seits der Mu­seen aus­brei­tet und ihre Selbst­ver­ständ­nis an­greift.


Zur Aus­s­tel­lung „Die Er­fin­dung der Neuen Wil­den“ im Lud­wig Forum für in­ter­na­tio­na­le Kunst in Aa­chen 2018

OSTKUNST 1 DIE RUSSEN

Die Aus­s­tel­lung „Im Wes­ten nichts Neues – Wir malen wei­ter“ der Ber­li­ner „Neu­en Wil­den“ 1982 ging die große Aus­s­tel­lung der Neu­er­wer­bun­gen Peter Lud­wigs in Mos­kau vor­aus: 97 Ge­mäl­de, 10 Skulp­tu­ren und 485 Gra­fi­ken – „A­spek­te so­wje­ti­scher Kunst der Ge­gen­wart. Samm­lung Lud­wig“. Sie wan­der­te nach Wien, Re­gens­burg, Lü­beck, Hö­vi­kod­den, Til­burg, Saar­brücken und Mainz. Elena Ko­ro­win schil­dert ihr Echo in ihrem Buch „Der Rus­sen-Boom. So­wje­ti­sche Aus­s­tel­lun­gen als Mit­tel der Di­plo­ma­tie in der BRD“ 2015.
In der Zen­tra­le des so­wje­ti­schen Künst­ler­ver­ban­des gab es kein Fo­to­ko­pier­ge­rät, um die Er­werbs­lis­ten Peter Lud­wigs zu ver­viel­fäl­ti­gen. Ihr Freund würde es für die Ver­brei­tung sei­ner Sa­mis­dats miss­brau­chen. Es schi­en nicht leicht, unter den Kon­trol­len des Ver­ban­des und des Staa­tes ein „Wil­der“ zu sein. Den­noch gab es Nachtaus­stel­lun­gen in Woh­nun­gen und ver­schwie­ge­ne An­ge­bo­te an die Mit­ar­bei­ter der west­li­chen Bot­schaf­ten, aber was Peter Lud­wig er­warb, muss­te er mit den Vor­sit­zen­den des Ver­ban­des aus­han­deln. Ein Kunst­han­del exis­tier­te nicht.
Das Bild des Ni­ko­lai An­dro­nov „Das tote Pferd und der schwar­ze Mond“ in sei­ner skiz­zen­haf­ten gro­ben Fak­tur er­in­nert an die Bil­der fran­zö­si­scher und flä­mi­scher „Fau­ves“,
über­trägt die helle Far­big­keit in die Dun­kel­heit der rus­si­schen Nacht und er­höht die Me­lan­cho­lie durch Ges­ten der Verzweif­lung und eine Mond­fins­ter­nis. Der so­wje­ti­sche Bot­schaf­ter in Bonn Wla­di­mir Sem­jo­now, der 1980 seine Kunst­samm­lung im Köl­ner Lud­wig Mu­se­um prä­sen­tiert und Lud­wig zu den Ein­käu­fen in Mos­kau er­mu­tigt hatte, hielt An­dro­nov für den RUSSISCHEN Maler schlecht­hin und grenz­te ihn pa­trio­tisch ge­gen­über vie­len an­de­ren ein, die aus Schu­len jener Re­pu­bli­ken stamm­ten, die, wie die bal­ti­schen, heute ihre Au­to­no­mie pfle­gen. 1981 stell­te ich ihn und seine Frau Egors­hi­na in der Neuen Ga­le­rie aus.
Der „Rus­sen-Boom“ in den 80 Jah­ren be­glei­te­te den Boom der Neuen Wil­den. In Aa­chen gaben die einen den an­de­ren die Hand.


Zu der Aus­s­tel­lung „Die Er­fin­dung der Neuen Wil­den“ im Lud­wig Forum für in­ter­na­tio­na­le Lunst in Aa­chen 2018

OSTKUNST!
Bevor Peter Lud­wig zeit­ge­nös­si­sche Kunst­wer­ke von Künst­lern der DDR er­warb, ver­han­del­ten der Vor­sit­zen­de des Künst­ler­ver­ban­des und der Di­rek­tor der Ber­li­ner Na­tio­nal­ga­le­rie mit ihm über Leih­ga­ben west­eu­ro­päi­scher und ame­ri­ka­ni­scher Kunst, und ich hatte Ge­le­gen­heit, 1977 an der dis­kre­ten Er­öff­nung der Pi­cas­so-, Lich­ten­stein- und War­hol-Leih­ga­ben in Ost­ber­lin teil­zu­neh­men. Erst da­nach be­gann Lud­wig, as­sis­tiert von Wolf­gang Schrei­ner, in Ber­lin, Leip­zig und Dres­den, Werke der Ver­bands­künst­ler Willi Sitte, Wolf­gang Matt­heu­er, Wer­ner Tübke, Bern­hard Hei­sig u.a. zu er­wer­ben und nach Aa­chen zu schi­cken. Den „Wil­den“ stan­den nun jene ge­gen­über, die sich be­müh­ten, den Pro­jek­ten so­zia­lis­ti­scher Ideo­lo­gi­en zu fol­gen und das Feind­bild ka­pi­ta­lis­ti­scher Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung in Bil­der zu fas­sen. Werke des Re­vo­luz­zers Penck besaß Lud­wig schon, an­de­re von Al­ten­bourg und Car­l­fried­rich Claus folg­ten. In der Po­di­ums­dis­kus­si­on wäh­rend der Er­öff­nung der DDR-Aus­s­tel­lung in der Neuen Ga­le­rie 1979 hielt sich Matt­heu­er zu­rück, und seine Bil­der ge­wan­nen die Sym­pa­thie vie­ler Be­trach­ter, weil sie eine di­stan­zier­te Hal­tung zu Bot­schaf­ten der DDR, ja eine ver­steck­te Kri­tik an ihrem ak­tu­el­len Selbst­be­wusst­sein, wenn nicht gar eine Vi­si­on zeig­ten, die in die Zu­kunft der Wie­der­ver­ei­ni­gung wies. Wor­über er­schrak Matt­heu­er in sei­nem Dop­pel­por­trät von 1977 nackt, im Dun­kel eines Fel­des grell be­leuch­tet? Vor Volks­po­li­zis­ten, die ihn such­ten? Vor einem Staat, der keine Frei­heit zuließ? Vor einer Aus­weg­losig­keit? Das war keine Verzweif­lung wie im „Schrei“ von Ed­vard Munch, aber eine mo­nu­men­ta­le Ge­bär­de der Ab­wehr gegen eine Macht, vor man nur flüch­ten kann. In die­sem po­li­ti­schen Tau­wet­ter der 80er Jahre er­schi­en die Neue Ga­le­rie mit der Samm­lung Lud­wig als ein Pio­ni­er der Öff­nung, an­de­re Samm­ler und Ku­ra­to­ren folg­ten.


Zu der Aus­s­tel­lung „Die Er­fin­dung der Neuen Wil­den“ im Lud­wig Forum für in­ter­na­tio­na­le Kunst in Aa­chen – bis zum 10. März 2019
Al­bert Oeh­len „Ohne Titel (See­ro­sen)“ 1982
Die „Liga zur Be­kämp­fung wi­der­sprüch­li­chen Ver­hal­tens“ grün­de­ten Al­bert Oeh­len und Wer­ner Bütt­ner in Ham­burg. Er fand den Titel „Neue Wilde“ „al­bern“ und schlug „Pos­tun­ge­gen­ständ­lich“ vor. 1982, als die­ses Bild ent­stand, ar­bei­te­te er mit Mar­tin Kip­pen­ber­ger, und Max Hetz­ler hatte ihm die erste Ein­zelaus­stel­lung in Stutt­gart ein­ge­rich­tet. Das große zwei­tei­li­ge Bild hat einen Titel in Klam­mern „See­ro­sen“, er er­laubt eine Re­fe­renz zu dem be­rühm­ten Al­ters­werk von Clau­de Monet in der Pa­ri­ser Oran­ge­rie.
Oeh­len führt den Be­trach­ter über eine harte Ufer­kan­te nach links auf ein Gerüst aus drei ver­ti­ka­len di­cken Holz­boh­len, in die drei ho­ri­zon­ta­le ge­steckt und mit ihnen ver­schraubt sind. Es steht lange schon in einer ruhig plät­schern­den Was­ser­flä­che; eine Spin­ne hat zwi­schen zwei der Pfei­ler ihr Netz aus­ge­brei­tet. In die rech­te ge­trenn­te Bild­hälf­te ragen die Boh­len, die das Gerüst tra­gen, hin­ein. Es ist nicht klar er­sicht­lich, dass einer der Bal­ken eine schwar­ze runde Schei­be und den Be­ton­so­ckel trägt, auf dem eine Kopfs­kulp­tur im Pro­fil be­fes­tigt ist. Num­me­rier­te Schlag­schlüs­sel lie­gen un­ge­ord­net am Ufer. Tat­säch­lich sind zu Füs­sen der Büste vier hell­ro­te Blü­ten­bün­del em­por­ge­schos­sen: die See­ro­sen.
Die „Six­ti­ni­sche Ka­pel­le des Im­pres­sio­nis­mus“, die Monet Frank­reich hin­ter­las­sen hat, steht hier für den Gip­fel einer eu­ro­päi­schen Äs­the­tik ge­mal­ter Bil­der, der Al­bert Oeh­len ein anti-äs­the­ti­sches Ma­ni­fest ent­ge­gen zu stel­len ver­sucht: den Tei­chen in Gi­ver­ny das Brack­was­ser eines Mee­res, den mäch­ti­gen Trau­er­wei­den das Boll­werk eines Gat­ters und dem un­s­terb­li­chen Meis­ter den Künst­ler als schar­fes an­ony­mes Pro­fil ver­ewigt im ver­sperr­ten Denk­mal – mit Schlag­schlüs­seln be­fes­tigt, von vier ver­ein­sam­ten See­ro­sen ge­fei­ert. Der rei­chen Pa­let­te Mo­nets steht die Tris­tes­se einer lose ge­mal­ten Ein­heit von Braun-, Grau- und Grün­tö­nen auf weißem Grund ge­gen­über. Iro­nisch meint Oeh­len: „Also, man müss­te das Me­di­um mög­lichst großen Be­las­tun­gen aus­set­zen, dann kommt rich­ti­ge Schön­heit her­aus“.
Das Bild hat Peter Lud­wig kurz nach sei­ner Ent­ste­hung für die Neue Ga­le­rie er­wor­ben. Jetzt hängt es im Lud­wig Forum.


Hitler mein Freund

Wolf­gang Be­cker

„Mein Freund Hit­ler“

Adolf Hit­ler in der zeit­ge­nös­si­schen Kunst -
Adolf Hit­ler in con­tem­po­ra­ry Art

Ein Aus­s­tel­lungs­pro­jekt - an ex­hi­bi­ti­on pro­ject

Das Bild Adolf Hit­lers steht heute in einer Ga­le­rie sa­ta­ni­scher Ge­stal­ten und ent­wi­ckelt eine Aura, die mit apo­ka­lyp­ti­schen Ängs­ten und To­des­sehn­süch­ten be­setzt ist: ein bie­de­rer ge­fal­le­ner Engel von kli­ni­scher Rein­heit, ein Ber­ser­ker der Hölle.

Das Bild trat in den letz­ten Jah­ren in ei­ni­gen Ar­bei­ten bil­den­der Künst­ler auf. Jedes hat mich er­schreckt. Er­schi­en mir das Bild in den eli­tär­en Zir­keln der In­tel­lek­tu­el­len ta­bui­siert und nur zu­läs­sig in einem Sumpf des mo­ra­li­schen Un­ter­grun­des? Ich be­gann, nach einem Ge­spräch mit die­sen Ar­bei­ten zu su­chen – in großer Be­schei­den­heit, denn ich weiß, dass hin­ter mei­nem Rücken Tau­sen­de von Pub­li­ka­tio­nen über das Drit­te Reich, den Ho­lo­caust, den Streit der His­to­ri­ker mit den Re­vi­sio­nis­ten und den Fa­schis­mus im 20. und im 21. Jahr­hun­dert ge­sta­pelt sind.

Das Foto

1943 trug ich einen „Hit­ler-Haar­schnitt“, eine Haa­rin­sel auf der Schä­del­de­cke mit einem prä­zis ge­zo­ge­nen Schei­tel rechts; er diene der Hy­gie­ne, sagte man uns; aus der Schu­le wur­den wir häu­fig mit Kopfläu­sen nach Hause ge­schickt. Dort hing im Wohn­zim­mer ein Foto von Hit­ler, nicht grö­ßer als 18 x 24 cm. Mein Vater lie­fer­te es mit dem Buch „Mein Kampf“ den Eng­län­dern aus, als sie den Ort be­setz­ten. Ich habe ihm das lange vor­ge­wor­fen. Immer, wenn ich an der Wand eines Rau­mes die Schmutz­rän­der eines Bil­des ent­de­cke, das ent­fernt wor­den ist, denke ich an Hit­lers Foto in der Woh­nung mei­ner Kin­der­zeit.

Das schwarz-weiße Foto hing in vie­len Woh­nun­gen. Es zeig­te den Kopf fron­tal und ver­such­te, das Bild des Haus­hei­li­gen, das An­dachts­bild, die Ikone zu ver­drän­gen. Es war eben­so „ver­ord­net“ wie jene, aber es besaß eine an­de­re Qua­li­tät der Glaub­wür­dig­keit. Als Sie­ben­jäh­ri­ge konn­ten wir mit dem Bild weder das eines Hel­den noch das eines Ger­ma­nen ver­bin­den, son­dern dach­ten, wenn wir es be­trach­te­ten, an sol­che Schul­leh­rer, die dazu neig­ten, uns zu quä­len.

Die Er­schei­nung Hit­lers wurde durch die­ses Foto, durch seine mi­li­tä­ri­sche Uni­form, in der er sich (mit we­ni­gen Aus­nah­men) dar­stell­te, und durch den ge­ho­be­nen rech­ten Arm, den „Hit­ler-Gruß“ all­ge­gen­wär­tig. Der Kopf, die Uni­form und der Gruß sind im Ge­dächt­nis der Mensch­heit ein­ge­brannt. Die Erin­ne­run­gen, die sie er­re­gen, sind eben­so viel­fäl­tig, wi­der­sprüch­lich und un­scharf wie die Ge­füh­le: sie rei­chen von tiefs­tem Grau­en bis zu dump­fer Ver­eh­rung.

Ei­ni­ge Kunst­wer­ke, die in den letz­ten Jah­ren ent­stan­den, haben diese Erin­ne­run­gen von neuem wach­ge­ru­fen. Sie er­reg­ten Auf­se­hen, weil sie Bil­der Hit­lers wie­der­ga­ben, und beide, die Bil­der und das Auf­se­hen, das sie er­reg­ten, das schwan­ken­de Ver­hält­nis zu­ein­an­der sind Thema die­ses Tex­tes. Ich ver­su­che, dem “Zeit­geist“ jener Epo­che – mei­ner Epo­che - zu fol­gen, der die Ver­gan­gen­heit des „Drit­ten Rei­ches“ in dra­ma­ti­schen Wand­lun­gen ver­ar­bei­tet hat. Mich be­glei­ten dabei die Sätze von Dmi­tri Pri­gow, die er dem Ge­dicht „Hit­lers Braut“ 1992 vor­an­ge­stellt hat:

„So wächst das Ver­gan­ge­ne und weit Zu­rück­lie­gen­de in kaum be­greif­li­cher Weise hin­über in die Ge­gen­wart. Und durch die schnurr­bär­ti­gen Ge­sich­ter der Kriegs­hel­den, durch die hohen Stir­nen un­se­rer Zeit­ge­nos­sen, durch die Zei­tungs­ka­ri­ka­tu­ren hin­durch schim­mern die ewig wäh­ren­den Bil­der der Ret­ter und Näh­rer von Hei­mat und Va­ter­land, der Mär­ty­rer für Volk und Wahr­heit, der „Uns­ri­gen“ und „un­se­rer Fein­de“. Und der auf­merk­sam Hö­ren­de er­kennt in den Lo­sun­gen und Auf­ru­fen, im Fest­tags­ju­bel und im Stra­ßen­ge­zänk die Ar­che­ty­pen von Be­schwö­run­gen, Ek­sta­sen, Kult­ge­sän­gen usw., deren struk­tur­bil­den­des Pa­thos un­se­re Ge­gen­wart un­ver­fälscht und un­er­schüt­ter­lich durch­dringt“ (1)..


Der Gruß

Die Bil­der des „Drit­ten Rei­ches“ eig­nen sich vor­treff­lich als In­stru­men­te zu An­grif­fen und Pro­vo­ka­tio­nen, und seit den sech­zi­ger Jah­ren des 20. Jahr­hun­derts – nach den Vor­läu­fen in der DADA-Be­we­gung und im Sur­rea­lis­mus (Bre­ton hat Dali auch aus der Grup­pe sei­ner Freun­de aus­ge­schlos­sen, weil er mit Hit­ler sym­pa­thi­sier­te und sein Bild in ei­ni­gen sei­ner Werke zi­tier­te; das Foto mei­ner Kind­heit malte er 1938 auf einem Tel­ler in dem Ge­mäl­de „Das Rät­sel Hit­ler“) - hat die Pro­vo­ka­ti­on eine wach­sen­de Rolle in der bil­den­den Kunst und ihrer öf­fent­li­chen Wir­kung über­nom­men.

Wie hat sich die Stra­te­gie der Pro­vo­ka­ti­on, wie hat sich ihre Wir­kung in die­sen vier­zig Jah­ren ge­wan­delt?

Cat­te­lan

Im Frank­fur­ter Mu­se­um für Mo­der­ne Kunst sind 2007 an einer großen Wand in einer Höhe von etwa 250 cm ne­ben­ein­an­der al­lein drei etwa glei­che vor­ge­streck­te rech­te Arme eines über­le­bens­großen Man­nes mon­tiert. (Ab­bil­dung) (2). Weiße ge­knöpf­te Man­schet­ten ragen aus den zi­vi­len Ja­cken­är­meln. Es ist der „Gruß“, wenn­gleich der Ita­lie­ner Mau­ri­zio Cat­te­lan
( * 1960 ) die Ar­beit „Ave Maria“ ge­nannt hat. Der ver­drei­fach­te Gruß wird durch den ka­tho­li­schen Titel nicht chris­tia­ni­siert, er er­hält sich die Erin­ne­rung an laut­star­ke Mas­sen­insze­nie­run­gen.

Ba­se­litz

1980 hat ein „Gruß“ Auf­se­hen er­regt: eine große Holzskulp­tur von Georg Ba­se­litz
(* 1938) in dem fei­er­li­chen Zen­tral­raum des deut­schen Pa­vil­lons der ve­ne­zia­ni­schen Bi­en­na­le – ein roh be­ar­bei­te­ter Block, dun­kel be­malt („mit Blut be­schmiert“ schrie­ben ei­ni­ge) – eine kräf­ti­ge sit­zen­de nack­te Männer­ge­stalt, ge­ra­de zu­rück ge­lehnt, den rech­ten Arm mit nach oben ge­öff­ne­ter Hand er­ho­ben(Ab­bil­dung). Nor­man Ro­sen­thal sagte vor der Figur in ihrer Lon­do­ner Aus­s­tel­lung 2006 : "Es er­in­nert an einen am­pu­tier­ten Hit­ler". Allzu wenig er­in­nert an den fa­schis­ti­schen Gruß, zu sehr ist hier einem fest­li­chen Ge­fühl im Sinn jener Di­thy­ram­be Aus­druck ge­ge­ben, für die Mar­kus Lü­pertz ein ei­ge­nes Motiv er­fand; aber der er­ho­be­ne Arm ge­nüg­te; die in­ter­na­tio­na­le Kunst­ge­mein­de war ner­vös, Ba­se­litz und Lü­pertz wur­den fa­schis­ti­scher Hal­tun­gen ver­däch­tigt. An­selm Kie­fer und Hans Jür­gen Sy­ber­berg hat­ten dazu bei­ge­tra­gen, einen Streit über das Erbe des Drit­ten Rei­ches aus­zu­lö­sen.

Kie­fer

„Be­set­zun­gen“ heißt eine Serie von Schwarz-Weiß-Fo­to­gra­fi­en Kie­fers (* 1945), eine Ex­amens­ar­beit von 1969 an der Karls­ru­her Aka­de­mie mit der Über­schrift „Zwi­schen Som­mer und Herbst 1969 habe ich die Schweiz, Frank­reich und Ita­li­en be­setzt. Ein paar Foto“ (Ab­bil­dun­gen). Sie zeigt den Künst­ler in Reit­ho­sen und –s­tie­feln in ei­ni­ger Ent­fer­nung vom Fo­to­gra­fen auf dem Forum Ro­ma­num und vor dem Ko­los­se­um, in den Rui­nen Pom­pe­jis, auf einem Fried­hof in Arles, am Strand von Sète, vor einem Rei­ter­stand­bild in Mont­pel­lier und ober­halb eines Tals bei Bel­lin­zo­na – fron­tal, mit er­ho­be­nem rech­ten Arm grü­ßend. In den Buch­ob­jek­ten „Für Genet“ und „He­ro­i­sche Sinn­bil­der“ ver­ar­bei­te­te er das Motiv wei­ter.

Der Gruß ge­hört der rö­mi­schen An­ti­ke wie das Forum Ro­ma­num oder das Ko­los­se­um, und der Titel „Be­set­zun­gen“ ver­wirrt eben­so wie die Ko­stü­mie­rung. Nichts lässt zu, in dem Sa­lu­tie­ren­den einen rang­ho­hen Na­tio­nal­so­zia­lis­ten bei einer „Land­nah­me“ zu sehen. Und den­noch: selbst dort, wo Kie­fer als Rücken­fi­gur das Meer grüßt und den Ver­gleich mit Cas­par David Fried­richs „Wan­de­rer über dem Ne­bel­meer“ evo­ziert, er­hält sich die Geste ihre ge­rad­li­ni­ge Re­fe­renz zum „Drit­ten Reich“.

Cat­te­lan ver­birgt sich hin­ter sei­nem „Gruß“ (buch­stäb­lich hin­ter der Wand); man weiß, dass er In­ter­views und Fo­to­ter­mi­ne mei­det. Nichts soll seine Per­son an die Werke bin­den, die er her­stel­len lässt. An­ders der junge Kie­fer: für ihn ist die Iden­ti­fi­zie­rung mit dem Foto ra­di­kal: er ist das Bild, und er ist der, des­sen Gruß er an­nimmt. „Ich iden­ti­fi­zie­re mich nicht mit Nero oder Hit­ler, aber ich muss ein wenig nach­voll­zie­hen, was sie taten, um den Wahn­sinn zu ver­ste­hen. Darum mache ich diese Ver­su­che, ein Fa­schist zu sein“ (3). „Ich trans­por­tie­re die Ge­schich­te in mein Leben exis­ten­ti­ell hin­ein. Für mich ist Ge­schich­te immer auch meine Wirk­lich­keit“ (4).

Diese Hal­tung war 1969 gegen jene ge­rich­tet, die ihre Wirk­lich­keit ge­schichts­los zu leben ver­such­ten, die jene Ver­gan­gen­heit ver­dräng­ten, die nicht nur von Grau­en, Not und Verzweif­lung, son­dern auch von Ver­füh­run­gen, Er­he­bun­gen, Jubel und Ek­sta­sen be­stimmt war – gegen die Ge­ne­ra­ti­on jener Väter, die der Fas­zi­na­ti­on des Fa­schis­mus er­le­gen waren.. Als Kie­fers „He­ro­i­sche Sinn­bil­der“ in den fol­gen­den Jah­ren be­kannt wur­den (die „Be­set­zun­gen“ er­schie­nen in der Zeit­schrift In­ter­funk­tio­nen 1975 in Köln), stie­ßen sie in eine hit­zi­ge öf­fent­li­che De­bat­te unter deut­schen Künst­lern, Kri­ti­kern, Li­te­ra­ten und His­to­ri­kern, die sich stei­ger­te und in­ter­na­tio­nal aus­wei­te­te, als der Film „Hit­ler“ von Hans Jür­gen Sy­ber­berg und der erste Band von Klaus The­we­leits Buch „Män­ner­phan­tasi­en. Frau­en, Flu­ten, Kör­per, Ge­schich­te“ 1977 er­schie­nen (5).

Sa­bi­ne Schütz hat daran er­in­nert, dass die Psy­cho­ana­ly­ti­ker Mar­ga­re­the und Alex­an­der Mit­scher­lich schon 1967 in ihrer Stu­die „Die Un­fä­hig­keit zu trau­ern“ „als ein­zi­ge Mög­lich­keit zur Über­win­dung der nach­kriegs­deut­schen Ver­drän­gungs­neu­ro­se die Ein­füh­lung in die Men­ta­li­tät der Täter in­di­zie­ren“ (6), The­we­leit führt die­sen Ge­dan­ken als das Kon­zept eines fran­zö­si­schen Psy­cho­ana­ly­ti­kers aus: „Der Weg der Er­kennt­nis wäre viel­leicht der, das ei­ge­ne Un­be­wuss­te nicht zu ver­drän­gen, die Ge­schich­te (des Fa­schis­mus) vom ei­ge­nen Un­be­wuss­ten „durch­le­ben“ zu las­sen, so dass die Er­kennt­nis der Ge­schich­te schließ­lich über eine Er­fah­rung des ei­ge­nen Un­be­wuss­ten ge­schieht.“ Er zi­tiert Wal­ter Ben­ja­min: „Was man ver­nich­ten will, das muss man nicht nur ken­nen, man muss es, um ganze Ar­beit zu leis­ten, ge­fühlt haben.“ Und fügt ein­schrän­kend hu­mor­voll hinzu: „Bei die­sem Vor­schlag ste­hen den His­to­ri­kern die Haare zu Berge“ (7). Schließ­lich ist Bazon Brock 1983 den Kri­ti­kern Kie­fers ent­ge­gen ge­tre­ten, indem er seine „af­fir­ma­ti­ve Stra­te­gie“ in ihrer Ge­schich­te be­grün­det. Er zi­tiert Karl Marx mit dem mar­kan­ten Satz: „Man muss die ver­stei­ner­ten Ver­hält­nis­se da­durch zum Tan­zen brin­gen, dass man ihnen ihre ei­ge­ne Me­lo­die vor­singt“(8).


Hit­ler in uns

Sy­ber­berg

Hans Jür­gen Sy­ber­bergs (* 1935) Film „Hit­ler. Ein Film aus Deutsch­land“ dau­ert 442 Mi­nu­ten und be­steht aus den vier Tei­len „Der Gral“, „Ein deut­scher Traum“, „Das Ende eines Win­ter­mär­chens“ und „Wir Kin­der der Hölle“. Er folg­te den Fil­men „Lud­wig – Re­quiem für einen jung­fräu­li­chen König“ (1972) und „Karl May“ 1974, ge­mein­sam sei den drei Pro­tago­nis­ten „die Suche nach dem ver­lo­re­nen Pa­ra­dies“: spä­ter (1982) ent­steht „Par­zi­fal“.

Der „Thea­terdi­rek­tor“ im Film schlägt vor, jeder möge nicht jenen Hit­ler spie­len, der be­setzt wor­den ist, den Rit­ter, den Tep­pich­fres­ser, den Na­po­le­on, den Ham­let, das Rum­pel­stilz­chen, den Kas­per, nicht den des Char­lie Chap­lin, son­dern „sei­nen“, den „Bru­der Hit­ler“, und er lässt den „Füh­rer“ als Puppe er­schei­nen, die Lud­wig II. im Arm wiegt, als Ma­rio­net­te, die ein sicht­ba­rer Spre­cher führt, und als Tra­gö­den in an­ti­kem Ge­wand, der an der „My­tho­lo­gi­sie­rung der Seele“ mit­wirkt. „Ich bin das schlech­te Ge­wis­sen der de­mo­kra­ti­schen Sys­te­me.“ Die ou­trier­ten Bil­der des „Füh­rers“, die Ma­rio­net­te und der ex­al­tier­te Schau­spie­ler, sind ein­ge­bun­den in einen strö­men­den, von Mo­no­lo­gen, von Wort­flüs­sen be­stimm­ten Hand­lungs­ab­lauf. Der Be­trach­ter ist dar­aus ent­las­sen. Er sitzt stau­nend, über­wäl­tigt im Zuschau­er­raum eines Film­fest­spiel­thea­ters. Die­ser Hit­ler ist nicht in ihm, son­dern dort, auf der Bühne, außer ihm(Ab­bil­dung).

Sy­ber­bergs Film er­reg­te die deut­schen In­tel­lek­tu­el­len, seit er 1980 im öf­fent­li­chen Fern­se­hen ge­zeigt wurde und weil pro­mi­nen­te aus­län­di­sche Kri­ti­ker wie Susan Son­tag, Mi­chel Fou­cault und Al­ber­to Mora­via ihn wür­dig­ten. Susan Son­tags Kom­men­tar 1980 ist Sy­ber­berg so wich­tig, dass er ihn noch heute im Begleit­heft zu der DVD des Films zi­tiert: „In­dem er ro­man­ti­sche Gran­dio­si­tät mit der Hefe mo­der­nis­ti­scher Iro­nie durch­setzt, gibt er ein Spek­ta­kel vom Spek­ta­kel, in­sze­niert er die show of the shows, Ge­schich­te – in einer Viel­zahl dra­ma­ti­scher Stile – Mär­chen­spiel, Zir­kus, Mora­li­tät, Al­le­go­rie, ma­gi­sche Ze­re­mo­nie, phi­lo­so­phi­scher Dia­log, To­ten­tanz -, mit einer nach Mil­lio­nen und Aber­mil­lio­nen zäh­len­den ima­gi­nären Be­set­zung und mit dem Teu­fel per­sön­lich als Haupt­fi­gur.“ (9).

In sei­nem die Gren­zen aller Kunst­gat­tun­gen über­schrei­ten­den, in einen Film kom­pri­mier­ten Ge­samt­kunst­werk vom Aus­maß und der Länge eines Wei­he­spiels Richard Wa­gners (der im ge­sam­ten Oeu­vre immer prä­sent ist) hat Sy­ber­berg Hit­ler auf ein­zig­ar­ti­ge Weise dä­mo­ni­siert und jenen Kom­plex ge­schaf­fen, der bis heute die De­fi­ni­ti­on des Deut­schen in der gan­zen Welt mit­be­stimmt: den „Hit­ler in ihm“ – und die Angst vor ihm.




Cat­te­lan

Sei­ner Stock­pup­pe im Schoß Lud­wigs II. steht am Ende der Epo­che die Wachs­fi­gur Hit­lers von Mau­ri­zio Cat­te­lan von 2001 ge­gen­über – im Kör­per eines Zwölf­jäh­ri­gen im Tweed-Anzug mit weißem Hemd und Kra­wat­te, kni­end, die Hände ge­fal­tet, den allzu großen Kopf leicht ge­ho­ben (Ab­bil­dun­gen). „Him“ nennt er ihn: alle soll­ten ihn ken­nen. (Neben dem Titel des drei­fa­chen Gru­ßes „Ave Maria“ könn­te hier „Ecce Homo“ ste­hen.) Die Ba­cken­kno­chen tre­ten her­vor, die Wan­gen sind ein­ge­fal­len, den de­mons­tra­ti­ven, pa­the­ti­schen Ernst, der dem fo­to­gra­fier­ten Hitl­er­ge­sicht meist eigen ist, er­setzt ein Ele­ment von durch­geis­tig­ter Trau­er. Er hat die Hände wirk­lich ge­fal­tet, nicht die rech­te über der lin­ken vor dem Schoß ge­hal­ten, wie of­fi­zi­el­le Fotos ihn häu­fig zei­gen. Der Mund ist fest ge­schlos­sen.

Die Skulp­tur folgt nicht der Ty­po­lo­gie der Ado­ran­ten, wie sie vor allem aus Al­tar­bil­dern des spä­ten Mit­tel­al­ters be­kannt ist, sie hat nicht die an­be­ten­den Hände er­ho­ben, son­dern im Schoß ge­senkt; sie ent­spricht eher dem Ge­de­mü­tig­ten, der von einem Mäch­ti­ge­ren auf die Knie zu sin­ken an­ge­hal­ten wird.

Die ir­ri­tie­ren­de Dis­kre­panz der Pro­por­tio­nen zwi­schen Kopf und Kör­per lässt Deu­tun­gen in zwei Rich­tun­gen zu: gemäß jenem schmerz­li­chen Schlag­wort „Hit­ler in uns“ wäre der Dämon in einen be­ten­den Schul­jun­gen ge­fah­ren, oder die­ser Hit­ler wäre das Mon­strum, das sich einer quä­le­ri­schen, fehl­ge­lei­te­ten, ver­wir­ren­den Kind­heit ver­dankt. Beide Deu­tun­gen sind von einem ein­dring­li­chen Mit­leid be­dingt, das der Be­trach­ter ab­zu­schüt­teln ver­sucht.

Es ent­steht nicht der Wunsch, etwas über die­je­ni­gen zu er­fah­ren, die die Fi­gu­ren in Ma­da­me Tussauds Wachs­fi­gu­ren­ka­bi­nett her­ge­stellt haben, weil es für selbst­ver­ständ­lich ge­hal­ten wird, dass sie ihre Auf­ga­be er­füll­ten, Ab­bil­der zu schaf­fen. Erst wenn in der Wahr­neh­mung eine Stö­rung ein­tritt, wenn das Ab­bild etwas Uner­war­te­tes ent­hält, wird nach dem Autor ge­fragt. Nicht nur Kunst­his­to­ri­ker su­chen des­halb be­stän­dig nach den Por­träts der Künst­ler in ihren Wer­ken. Folg­lich ent­steht die Frage: was ver­bin­det Cat­te­lan mit Hit­ler? Und: wenn er sich nicht äu­ßert, wenn er sich ihm nicht als Künst­ler ent­ge­gen stellt, spie­gelt er sich in ihm? Sucht er, der in New York le­ben­den Ita­lie­ner, wie Sy­ber­berg nach dem Hit­ler in ihm?



My Fri­end Hit­ler

Or-Ner

In Tel Aviv hat 2006 der is­rae­li­sche Künst­ler Dov Or-Ner eine Serie von 100 Zeich­nun­gen unter dem Titel „My fri­end Hit­ler“ aus­ge­stellt (Ab­bil­dun­gen) (11). Er und sein Bru­der sind nicht wie seine Fa­mi­lie in Ausch­witz um­ge­kom­men, son­dern konn­ten in einem Klos­ter in Süd­frank­reich Schutz fin­den. Diese rot-blau-gel­ben Farb­stift­zeich­nun­gen sind in den letz­ten Jah­ren ent­stan­den, in großem zeit­li­chem Ab­stand zu den Er­eig­nis­sen sei­ner Kind­heit, und den­noch ist es eine per­sön­li­che, akute Be­trof­fen­heit, die sie an­deu­ten. Er setzt ihnen in dem klei­nen Ka­ta­log zur Aus­s­tel­lung einen Mo­no­log voran, den er Hit­ler spre­chen lässt. Er endet: „Okay, okay, so maybe I was a litt­le weird (?) not crazy. Just a litt­le weird.” So führt er ihn vor: als Ma­so­chis­ten, der sich die Ei­chel mit einer Kerze ver­sengt, als Herm­aphro­di­ten in ver­schie­de­nen weib­li­chen Ko­stü­mie­run­gen, als Miss­ge­burt, Ex­hi­bi­tio­nis­ten, Tän­zer, Tän­ze­rin, Ma­stur­bie­ren­den, einen Men­schen, der sich wünscht, dass hin­ter dem durch­sich­ti­gen Spie­gel sei­nes Ba­de­zim­mers Voy­eu­re ver­sam­melt sind; einen „fre­ak“, ges­ti­ku­lie­rend, gri­mas­sie­rend, fast immer er­kenn­bar „er“

Eine Bild­spra­che wie diese, die Erin­ne­run­gen an den deut­schen Ex­pres­sio­nis­mus ent­hält, und die In­hal­te, die sie ver­mit­telt, eben „ fre­aks “, diente den Na­tio­nal­so­zia­lis­ten dazu,
von „ ent­ar­te­ter Kunst “ und von „le­ben­sun­wer­tem Leben“ zu spre­chen. Der Hit­ler des Dov Or-Ner würde das Drit­te Reich nicht über­le­ben. In 100 Blät­tern wird er hier ver­nich­tet.

Es sind klar um­ris­se­ne Emo­tio­nen, die den Künst­ler lei­ten: Bit­ter­keit, Zorn, Ver­ach­tung, Hass. Ein ge­rin­ges Maß an Di­stanz zum Ob­jekt er­laubt ihm, zu spot­ten. Der deut­sche Künst­ler Blal­la W. Hall­mann (* 1941) bie­tet sich an, die­ses Ele­ment des Spot­tes zu um­rei­ßen.

Hall­mann

Hall­mann starb 1997 und hin­ter­ließ eine Grup­pe von Hit­ler-Bil­dern, die er in den frü­hen neun­zi­ger Jah­ren malte (Ab­bil­dun­gen) (12). Er mach­te seit den sieb­zi­ger Jah­ren mit bös­ar­ti­gen Zeich­nun­gen, Ra­die­run­gen und ge­mal­ten Bil­dern, die eine pa­to­phi­le Äs­the­tik be­rühr­ten („bor­der­li­ning“), auf sich auf­merk­sam und hin­ter­ließ ein ei­ge­nes Mu­se­um, das Freun­de für ihn in Winds­heim bei Nürn­berg ein­ge­rich­tet haben. In sei­nen Hit­ler­bil­dern be­müh­te er sich um eine alt­meis­ter­li­che Per­fek­ti­on und Nai­vi­tät, die der Kunst des Drit­ten Rei­ches, wie er sie ver­stand, Tri­but zollt.

„On­kel Wolf “ (so hieß Hit­ler in den Fa­mi­lie Wa­gner in Bay­reuth) in brau­ner Uni­form mit einem Blu­men­kranz im Haar und einem Zei­sig auf der grü­ßen­den rech­ten Hand, steht auf einem Hau­fen von nack­ten Lei­chen und „zau­bert “ (so heißt das Bild):er hält mit der Lin­ken sein Glied um­fasst und uri­niert auf sie­ben klei­ne hitler­grü­ßen­de Mäd­chen in wei­ßen Hemd­chen mit Prei­sel­beer­krän­zen im Haar; er löscht die Flam­men, die auf ihren Köp­fen bren­nen und er­in­nert so an das schwe­di­sche Lich­ter­fest: „Schwer liegt die Fins­ter­nis auf un­se­ren Gas­sen, / lang hat das Son­nen­licht uns schon ver­las­sen./ Ker­zenglanz strömt durchs Haar. /Sie treibt das Dun­kel aus: / Santa Lucia! Santa Lucia!“ Das Bild „Ihr schöns­ter Tag “ zeigt auf einer mit Pus­te­blu­men be­setz­ten Wiese vor schwar­zem Him­mel einen fron­tal auf­recht ste­hen­den, stramm grü­ßen­den Hit­ler, dem ein klei­nes blon­des Mäd­chen in blau­em Kleid das Ver­gnü­gen einer Fel­la­tio be­schert. („Hall­mann zeigt, dass Hit­ler ohne Por­no­gra­fie nicht zu zei­gen ist.“ (Klaus The­we­leit) (13)). 1994 malte Hall­mann Hit­ler und Nietz­sche auf einer Eis­schol­le vor jenem Eis­meer, das Cas­par David Fried­rich be­kannt ge­macht hat ( „ Die ge­schei­ter­te Hoff­nung “.) Ihre Köpfe wach­sen aus Klein­kin­der­kör­pern, sie sind mit kur­z­en Hemd­chen be­klei­det, Hit­ler ein Mäd­chen mit Pa­let­te, Nietz­sche ein Junge mit Holz­p­ferd­chen auf Rä­dern. Sie geben sich die rech­te Hand (13).

Im Ge­gen­satz zu den Bil­dern des Dov Or-Ner zei­gen die Hall­manns ein ge­rin­ges Maß an per­sön­li­cher Be­trof­fen­heit, er teilt den Hass auf das Drit­te Reich und seine Ver­kör­pe­rung in Adolf Hit­ler mit sei­ner Ge­ne­ra­ti­on in Deutsch­land. Der bei­ßen­de Spott, der die Kunst des Drit­ten Rei­ches ein­be­zieht, ist seine Mög­lich­keit, sich zu ent­las­ten. Wie Dov Or-Ner zielt er in der Per­son Hit­lers auf Ele­men­te, die ihn zum Anor­ma­len stem­peln. Or-Ner er­fin­det sie, Hall­mann knüpft an be­kann­te The­men wie die häu­fig pro­pa­gier­te Kin­der­lie­be des Kin­der­lo­sen an, die sich der Per­ver­si­on an­bie­tet (14). Die Stra­te­gi­en bei­der Künst­ler sind gegen ein Feind­bild ge­rich­tet. Der Titel der Aus­s­tel­lung in Tel Aviv „My Fri­end Hit­ler“ des­avou­iert die Ge­füh­le der Hin­wen­dung und der Em­pa­thie mit bit­ters­ter Iro­nie.

Iva­nov

Man gerät hier schnell in den Be­reich der Be­lus­ti­gung. So ver­setzt der si­bi­ri­sche Maler Juri Iva­nov (* 1950) in Bar­naul Hit­ler in einen „Bun­ker Kar­zer 6“, an­spie­lend auf Tsche­chows No­vel­le „Kran­ken­saal 6“, ein Ir­ren­haus, vor dem sich der ein­ge­bil­de­te „Füh­rer“ stolz mit Ha­ken­kreuz­bin­de und einem Dos­sier „Mein Leben“ unter dem Arm prä­sen­tiert (Ab­bil­dung) (15).

Vom Bruch, Kno­ebel

Aber nicht nur im fer­nen Si­bi­ri­en, auch in deut­schen Krei­sen von Künst­lern und In­tel­lek­tu­el­len gibt es Bei­spie­le, in denen Zeit­ge­nos­sen „dä­mo­ni­siert“ wur­den. Hier sind zwei davon: Klaus vom Bruch (* 1952) stellt den Kunst­händ­ler Franz Dah­lem in einer Druck­sa­che mit der Über­schrift „Der lie­bens­wür­digs­te Kunst­händ­ler Bay­erns“ dar, und die Ga­le­rie Klein in Bonn gibt 1984 eine Post­kar­te her­aus: „Die geis­ti­ge Um­nach­tung eines Rah­mens. Imi Kno­ebel: Schwar­zes Qua­drat“. Sie zeigt einen ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­den­ten mit Hit­ler­bärt­chen, be­zeich­net mit einer klei­nen wei­ßen Tafel als Imi Kno­ebel.(* 1940) (Ab­bil­dun­gen) (16).

Grund­mann

Mir fällt ein neues fei­nes Buch in die Hände, dass der Salon Ver­lag dem Köl­ner Maler Tho­mas Grund­mann unter dem Titel „Kil­ling Phi­lis­ti­nes!“ wid­met. Grund­mann be­treibt in Köln ein Stu­dio für elek­tri­sche Tä­to­wie­run­gen und be­ar­bei­tet in die­sem Rand­ge­biet zwi­schen Kör­per- und Bild­zeich­nung und –ma­le­rei The­men der Pop-Kul­tur. Er führt im Stil der Co­mics den Tod Hit­lers und Eva Brauns und sei­nen un­end­li­chen Ruhm vor: „55 mil­li­on ways on how 2 be­co­me a ce­le­bri­ty!“ (Ab­bil­dun­gen) (17)

Mis­hi­ma

Wem kann Hit­ler ein Freund sein? „Waga tomo Hit­torâ“ „Mein Freund Hit­ler“ ist der Titel eines Thea­ter­stücks des ja­pa­ni­schen Au­tors Yukio Mis­hi­ma (* 1925). Vor der Ur­auf­füh­rung in Tokio ver­teil­te er selbst Flug­blät­ter mit dem Satz „Eine ab­scheu­li­che Hul­di­gung an Hit­ler, die­sen ge­fähr­li­chen Hel­den, von dem ge­fähr­li­chen Ideo­lo­gen Mis­hi­ma“. 2000 er­reg­te das Bran­den­bur­ger Thea­ter mit der deut­schen Ur­auf­füh­rung einen Skan­dal. 2008 wird das Thea­ter Mann­heim das Stück zei­gen.

Das Stück gibt vor, in einem Ge­spräch zwi­schen Gu­stav Krupp, Georg Stras­ser, Ernst Röhm und Adolf Hit­ler das his­to­ri­sche Er­eig­nis der Nacht des 30. Juni 1934 zu schil­dern, in der Hit­ler Gö­ring und Himm­ler an­weist, Stras­ser, Röhm und die An­füh­rer der SA exe­ku­tie­ren zu las­sen. Stras­ser sieht sei­nen und Röhms Tod vor­aus, warnt jenen, die Re­vo­lu­ti­on, die 1923 be­gon­nen habe, sei be­en­det, aber Röhm ver­traut sei­ner Freund­schaft mit Hit­ler und be­geis­tert sich für einen zwei­ten re­vo­lu­tio­nären An­lauf. Seine fa­schis­ti­sche Fan­ta­sie, seine Träu­me von Blut­räuschen, seine un­ver­brüch­li­che Män­ner­freund­schaft sind das Thema des Dra­mas, er ist die Iden­ti­fi­ka­ti­ons­fi­gur Mis­hi­mas. Röhms Freund­schaft hat dem Stück den Namen ge­ge­ben.

Die psy­chi­schen De­for­ma­tio­nen jener mi­li­tan­ten Na­tio­nal­so­zia­lis­ten der ers­ten Stun­de hat The­we­leit in den „Män­ner­fan­tasi­en“ aus­führ­lich un­ter­sucht. Sie er­schei­nen heute noch ein­mal auf deutsch in dem fran­zö­sisch ge­schrie­be­ne Buch „Die Wohl­ge­sinn­ten“ von Jo­na­than Lit­tell, dem fik­ti­ven Le­bens­be­richt des Ober­sturm­bann­füh­rers Max Aue, eines ho­mo­se­xu­el­len In­tel­lek­tu­el­len mit künst­le­ri­schen An­la­gen, eines ge­fähr­de­ten Au­ßen­sei­ters. Der jü­di­sche Autor hat sich einen „Dop­pel­gän­ger“ ge­schaf­fen, der nicht zö­gern würde, ihn grau­sam zu ver­nich­ten.

Punk

Oeh­len
1984 malte Al­bert Oeh­len (* 1954) nach ei­ni­gen Vor­stu­di­en (wie “Der Chef (grü­ßend)”) einen fron­ta­len Kopf in engem Aus­schnitt 140 x 140 cm groß mit sum­ma­ri­schem Duk­tus, der deut­lich der des „Füh­rers“ ist, ob­wohl das Ge­sicht rot und die Haare kräf­tig oran­ge leuch­ten; ein Kopf auf einem kräf­ti­gen Hals mit ent­schlos­se­nem Blick; eine über­le­bens­große „I­ko­ne“ (Ab­bil­dung) (18). Das Bild und seine Va­ri­an­ten wur­den häu­fig ge­zeigt und er­reg­ten in Deutsch­land, Eng­land und Ame­ri­ka Auf­se­hen. „ Oeh­len´s por­trait of Hit­ler is about as subt­le as a hand gre­na­de….” kom­men­tier­te Hamza Wal­ker 1995 in Chi­ca­go, und Mi­cha­el Cor­ris in Lon­don schrieb 2006: “This is Oeh­len´s debt to the pun­kish cauldron of 70s an­ar­chism”(19).
Diese Be­mer­kung er­in­nert daran, dass Al­bert Oeh­len, sein Bru­der Mar­kus und seine Freun­de Wer­ner Bütt­ner und Mar­tin Kip­pen­ber­ger sich da­mals in einem Mi­lieu deut­scher Ju­gend­kul­tur be­weg­ten, das von der Musik des Punk und der „Neu­en Deut­schen Welle“ be­herrscht war. Kip­pen­ber­ger malte 1984 „H.H.I.F. (Heil Hit­ler Ihr Fe­ti­schis­ten)“, die Brü­der Oeh­len spiel­ten in ver­schie­de­nen Bands – Red Cray­o­la, Jail­hou­se, Van Oeh­len.
1981 hatte die Grup­pe DAF /Deutsch-ame­ri­ka­ni­sche Freund­schaft) mit dem Mus­so­li­ni-Song Auf­se­hen er­regt:
„Geh in die Knie und klatsch in die Hände,/ beweg deine Hüf­ten und tanz den Mus­so­li­ni./ Dreh dich nach rechts und klatsch in die Hände/ und mach den Adolf Hit­ler und jetzt den Mus­so­li­ni./Beweg dei­nen Hin­tern und klatsch in die Hände,/ tanz den Jesus Chris­tus./ Geh in die Knie und dreh dich nach rechts und dreh dich nach links/ und tanz den Mus­so­li­ni und jetzt den Jesus Chris­tus./ Klatsch in die Hände und tanz den Kom­mu­nis­mus.“

„Get up. shake your hips. clap your hands. and dance the Mus­so­li­ni. dance the Adolf Hit­ler. move your ass. and dance the Jesus Christ.”

Der Sän­ger der Grup­pe, Gabi Del­ga­do-Lopez, ver­tei­dig­te sich da­mals: “ I don't be­lie­ve in any­thing, so I'm free to play with any­thing I want. We take all that we want and play with it…Ich finde diese gan­zen Vo­ka­beln ent­my­sti­fi­zie­rend, weil wir Wör­ter in einen lä­cher­li­chen Disco-Zu­sam­men­hang ge­bracht haben, die auf un­ter­schied­li­che Weise hei­lig sind“(20).

Reiz­wor­te wie „B­litz­krieg“ und „SS Hit­ler“ tauch­ten schon im Lon­do­ner Punk auf, in der „Neu­en Deut­schen Welle“ nen­nen sich Grup­pen „A­dolf und Eva“ oder „Die Hit­lers“. Die Namen er­schei­nen als ge­stei­ger­te Pro­vo­ka­tio­nen in einem Mi­lieu, das von ni­hi­lis­ti­schen no-fu­ture-Stim­mun­gen durch­wach­sen ist, aber der bei­ßen­de Sar­kas­mus, der sie trägt, be­wegt sich an einer spie­le­ri­schen Ober­flä­che. „Wer wuss­te, dass es Spiel war, hatte einen Vor­sprung ge­gen­über denen, die es ernst nah­men….“ (21).

In sei­ner Un­ter­su­chung über „Ju­gend­kul­tu­ren und NS-Ver­gan­gen­heit“ warnt Mar­tin Kers­ten:
„Wenn ta­bui­sier­te Reiz­wör­ter die­ser Art tat­säch­lich eine Fas­zi­na­ti­on aus­üben, dann ver­lie­ren sie ihre fa­schis­ti­sche Kon­no­ta­ti­on auch nicht, wenn sie nach Art des zi­tier­ten Tex­tes re­spekt­los ge­braucht wer­den.“ Und er fügt aus dem Be­reich der Bil­der und Zei­chen ein Bei­spiel an: „1982 hatte Ro­se­ma­rie Tro­ckel ihren Ha­ken­kreuz-Pull­over kre­i­ert. Zehn Jahre spä­ter trug ihn Tors­ten Lem­mer bei einer Talks­how des NDR. Lem­mer, eine um­trie­bi­ge Figur aus der jun­gen rechts­ex­tre­men Szene, war zu die­sem Zeit­punkt Ma­na­ger der Nazi-Rock­band Stör­kraft…“

Kön­nen wir von einer iro­ni­schen Über­le­gen­heit aus­ge­hen, in der der Autor be­wusst das Zei­chen, das er ge­stal­tet, sinnent­leert? Ist das die Tra­ves­tie, die Mi­cha­el Cor­ris meint, wenn er schreibt: „The pro­blem that seems to me to haunt Oeh­len´s work is how to mas­ter and con­trol the tra­ve­s­ty that pain­ting today must be if it is to avoid de­scen­ding into re­ac­ti­on or ir­re­le­van­ce“(22). Mar­tin Prinz­horn nennt die Hal­tung des Künst­lers “höh­nisch”: „Was in sei­nem Sinn erst gute Kunst bei einem Werk aus­macht, ist die Mög­lich­keit, die­ses, nach­dem es von einer Seite in Be­schlag ge­nom­men wor­den ist, so­fort höh­nisch der an­de­ren (ge­gen­tei­li­gen) Seite zu­ord­nen zu kön­nen“(23). Roger Beh­rens ver­ur­teilt sol­che Ver­su­che, einen be­las­te­ten In­halt auf­zu­he­ben: „. Das ist ge­schichts­blind, zu­min­dest ge­dan­ken­los für die ge­gen­wär­ti­ge Si­tua­ti­on der Kunst, die kei­nen Halt mehr in po­li­ti­schen Be­we­gun­gen fin­det….Die ein­zi­ge Pro­vo­ka­ti­on, die Oeh­len er­reicht, ist die, dass er sich selbst ins Fahr­was­ser des Na­zis­mus be­gibt, weil seine kri­tik- und di­stanz­lo­se Dar­stel­lung Hit­lers keine Ein­deu­tig­keit zu­lässt…..“ (24)

Die Größe des Ge­mäl­des und der Ort sei­ner Öf­fent­lich­keit be­stim­men das Ge­spräch über seine Wir­kung. Die Größe, die Blä­hung des Ab­bil­des könn­ten die Hoff­nung zu­las­sen, dass ein Motiv durch einen Akt „of­fe­ner“, leb­haf­ter, sich selbst re­flek­tie­ren­der Ma­le­rei be­wäl­tigt, be­sei­tigt wird, wäre da nicht der öf­fent­li­che Ort, in dem das Ab­bild eine über­wäl­ti­gen­de Be­kannt­heit hat. Selbst dort, wo das Ab­bild wei­ter­ge­hend ver­un­klärt in eine ma­le­ri­sche Kom­po­si­ti­on ein­be­zo­gen ist wie in Ul­rich Baehrs Ge­mäl­de „S­port­pa­last“ von 1966, bleibt das Skan­da­lon deut­lich sicht­bar (Ab­bil­dung) (25)..

Die Größe des Ge­mäl­des und die Vor­stel­lung, der Autor stün­de ein­sam im Ate­lier vor sei­nem Werk, er­lau­ben am Ende, sich einen Dia­log vor­zu­stel­len, der die Gren­zen eines Ge­sprächs über Ma­le­rei durch­bricht.

Dali

Das Bild eines Zeit­ge­nos­sen des „Drit­ten Rei­ches“, „El Enig­ma de Hit­ler“ von Sal­va­dor Dali (* 1904) in Ma­drid zeigt, wie klein das Hit­ler­zi­tat sein kann, ohne seine Herr­schaft über ein Ge­mäl­de zu ver­lie­ren: ein ab­ge­ris­se­nes Por­trät­fo­to in der Art jener, die in den Wohn­zim­mern mei­ner Kind­heit hin­gen, nicht viel grö­ßer als die paar wei­ßen Boh­nen auf dem Tel­ler unter dem ge­bors­te­nen Te­le­fon­hö­rer, aus dem eine Träne tropft (ein Kom­men­tar Dalis zum Mün­che­ner Ab­kom­men des glei­chen Jah­res 1938) (Ab­bil­dung).

Dali hat ge­nos­sen, die Pa­ri­ser Grup­pe der Sur­rea­lis­ten mit sei­ner Nei­gung zu Hit­ler zu pro­vo­zie­ren. Dabei kann er nie po­li­tisch sein, son­dern äu­ßert sich „pa­ra­no­isch“:

„Ich war fas­zi­niert von Hit­lers wei­chem und flei­schi­gem Rücken, der immer so prall in seine Uni­form ge­schnürt war. So oft ich be­gann, den Le­der­rie­men zu malen, der sich von sei­nem Gür­tel schräg über die Schul­ter zog, ver­setz­te die Weich­heit ... mich in eine schmack­haf­te, nahr­haf­te und wag­ne­ria­ni­sche Ek­sta­se, die mein Herz hef­tig schla­gen ließ, eine sehr sel­te­ne Er­re­gung, die ich nicht ein­mal beim Lie­bes­akt emp­fand“ (26).

Das Ver­hält­nis Jo­na­than Mee­ses zu Hit­ler ist, im Ge­gen­satz zu Dali, nicht das eines Lieb­ha­bers, son­dern das eines Soh­nes.
Meese
In sei­ner großen Aus­s­tel­lung in den Ham­bur­ger Deichtor­hal­len 2006 zeig­te Meese (*1971) die In­stal­la­ti­on „MOR“ (MUTTER), eine rosa Burg, die er mit TAL R kon­zi­piert hat.. Zwi­schen den Bei­nen eines Lie­gen­den (einer be­klei­de­ten und be­mal­ten Puppe) klebt auf dem So­ckel das Foto des Kop­fes von Hit­ler (Ab­bil­dun­gen) (27). Er trägt auf der Stirn die ge­mal­ten Buch­sta­ben ICH.
Meese er­regt seit 1998 als Per­for­mer Auf­se­hen, er häuft auf­ge­sam­mel­te Worte und Bil­der zu “Kas­ka­den” und “Ge­bir­gen”, er fei­ert zahl­rei­che “Hel­den” wie Sta­lin, Pol Pot, Mus­so­li­ni, Ca­li­gu­la, Echna­ton und Hagen von Tron­je, “Conan – der Bar­bar” ( im Film mit Ar­nold Schwar­ze­neg­ger), „Mad Max“ und Zar­doz, den Science­fic­ti­on-Hel­den in John Boor­mans Film („Die Waffe ist gut, der Penis ist schlecht! Der Penis schießt Samen und macht neues Leben, um die Erde mit der Seu­che Mensch zu ver­gif­ten!“ sagt Zar­doz, der stei­ner­ne Gott.) Er „be­tet sie an“. Er nennt Hit­ler sei­nen Vater, be­kennt seine ver­zwei­fel­te Hilf­lo­sig­keit als Künst­ler in die­ser Welt, wünscht sich, ein Hit­ler für die Kunst zu sein, er würde der Kunst jene re­vo­lu­tio­näre Kraft ver­lei­hen, mit der sie die Zi­vi­li­sa­ti­on ver­än­dern könn­te.
Meese hat in sei­nen Per­for­man­ces so häu­fig den Hitler­gruß be­nutzt, dass das Pub­li­kum re­bel­lier­te, als er ihn in einer sei­ner letz­ten ver­wei­ger­te. In einem In­ter­view wurde er ge­fragt: “Wenn du auf der Bühne den Na­zi­gruß bis zur Er­lah­mung ze­le­brierst, ist das bloß hohle Form, vor­ge­führ­te Be­deu­tungs­lo­sig­keit durch Über­sät­ti­gung, oder die Suche nach der Über­win­dung des Ober­flä­chen­rei­zes?“ und er ant­wor­te­te: „Es hat mit sehr vie­lem davon zu tun. Und es ist auch Hilf­lo­sig­keit. Was soll man denn sonst brin­gen? Ich bin ja gerne be­reit, eine an­de­re Geste zu ma­chen, ich frage mich auch, was noch kom­men soll. Muss ich auf der Bühne ma­stur­bie­ren?”(28). Warum nicht? fragt der Kunst­his­to­ri­ker, der se­xu­el­le Ak­tio­nen in Hap­pe­nings von Otto Mühl und an­de­ren in den sech­zi­ger Jah­ren des 20. Jh. er­lebt hat. Die Mü­dig­keit des spä­ten Sur­rea­lis­ten, der sich Dalis Metho­de der „kri­ti­schen Pa­ra­noia“ be­dient, um seine künst­le­ri­schen Psy­cho­sen zu er­rei­chen, bricht sich in da­dais­ti­schen Satz­schöp­fun­gen wie „Dr. NOs Dia­man­ten­plan­ta­ge, des Phan­tom­mönchs Prä­rie­erz­hall, nahe den wäss­ri­gen Gold­fel­dern des Dr. Sau, dabei die Dschun­gel­haut über die Zahn­span­ge des ern­te­fri­schen Geil­mäd­chens „Saint Just“ oder „Fräu­lein Over­kill´s Tanz­bo­den, rat­ten­scharf, klar­ma­chen,( Das her­me­ti­sche Duell, der Nug­get-Jim de Gong und Dr. Billy the Ki­dad­dy am Eagle-Tail von She­rif´Mar­schall-Dirn (nah´­dem Spin­nen­tea.Fo­rest Mam­mu­tus 1912)“. Sie schließt jene durch­aus un­po­li­ti­sche, aber zu­tiefst fa­schis­ti­sche Sym­pa­thie zu Dik­ta­to­ren, zu „Wel­t­herr­schern“ ein, die schon Dali be­kann­te.

Der Schat­ten
Van Lies­hout
2006 pro­du­zier­te der nie­der­län­di­sche Künst­ler Erik van Lies­hout (* 1968) für die Ber­li­ner Bi­en­na­le das Video “Rot­ter­dam – Ro­stock”, in dem er eine Fahr­rad-Reise do­ku­men­tiert, wäh­rend der er unter an­de­ren ei­ni­ge ar­beits­lo­se ju­gend­li­che Neo­na­zis ken­nen lern­te und gegen Ho­no­ra­re film­te (Ab­bil­dung) (29). Sie be­stä­tig­ten ihm ei­ni­ge Be­mer­kun­gen, die der fran­zö­si­sche Phi­lo­soph Mi­chel Fou­cault 1980 in einer Be­spre­chung des Hit­ler-Films von Sy­ber­berg über die Deut­schen nach dem Fa­schis­mus mach­te. Was würde sie aus­zeich­nen? “Eine ge­wis­se Ein­dring­lich­keit der Nie­der­tracht, ein ge­wis­ses Schil­lern des Mit­tel­ma­ßes”(30). Lies­hout ver­kürzt diese Be­haup­tung in ein zeit­ge­nös­si­sches pau­scha­les in­ter­na­tio­na­les Vor­ur­teil: „Im tiefs­ten In­nern wis­sen sie (die Deut­schen) doch ganz genau, dass sie was Bes­se­res sind. Tief drin sieht es in die­sen Leu­ten übel aus“ (31). In sei­nen Aus­s­tel­lun­gen zeigt er zu dem Video be­zeich­ne­te Post­kar­ten des Hit­ler­hau­ses auf dem Ober­salz­berg und kräf­ti­ge Koh­le­zeich­nun­gen, unter ihnen auch sol­che mit Köp­fen, die an Hit­ler­por­träts er­in­nern und mit Ali H. ge­zeich­net sind. Sie re­flek­tie­ren eine Neo­na­zi-Szene in Deutsch­land gleich­sam do­ku­men­tie­rend. In einer der Post­kar­ten aus dem Berch­tes­ga­de­ner Land no­tiert van Lies­hout Ideen zu einem Titel für den Film: „Do­ku­ment“, „Schmet­ter­lin­ge“, „Ghostri­der“, „Ho­tel Hit­ler“, „Ali H.“. Die Zeich­nung des Ali H. könn­te das Por­trät eines Tür­ken sein, das Ab­bild des A.H. sein Schat­ten.

Ich habe mei­nem Vater nicht nur vor­ge­wor­fen, das Foto Hit­lers den Eng­län­dern über­ge­ben zu haben, son­dern seine „Ent­na­zi­fi­zie­rung“, seine „Be­wäl­ti­gung“ des Drit­ten Rei­ches ab­schät­zig be­ob­ach­tet. Sein fremd­ge­lei­te­tes Na­tio­nal­be­wusst­sein, sein Frem­den­hass haben mich geis­tig aus Deutsch­land ver­trie­ben. So ge­hö­re ich zu den Ge­ne­ra­tio­nen, die das kol­lek­ti­ve Trau­ma des Drit­ten Rei­ches nicht er­lit­ten und eine Erin­ne­rungs­kul­tur ent­wi­ckelt haben, in der das Be­wäl­ti­gen, das Über­win­den an­de­re For­men an­ge­nom­men hat. „In mei­ner ei­ge­nen Ge­schich­te, im Fa­mi­li­en­be­reich, war immer die Rede vom Krieg. Aber da wurde immer di­rekt er­zählt. Mit mei­ner Ar­beit woll­te ich zu­nächst in­di­rekt her­an­ge­hen: all das ge­wöhn­li­che die­ser Zei­tungs­bil­der, diese Art von Bana­li­tät und das ba­na­le Feld um den Krieg herum.“ Diese Be­mer­kung des bel­gi­schen Ma­lers Luc Tuy­mans (* 1958) habe ich so­fort ver­stan­den.

Tuy­mans

Tuy­mans zeigt in sei­nem Ge­mäl­de „De Wan­de­ling“ (Der Spa­zier­gang) 1993 die Rücken­fi­gu­ren von zwei Män­nern im Vor­der­grund einer Land­schaft (Ab­bil­dung) (32). Sie wan­dern aus einem Wald her­aus auf einen See zu, hin­ter dem eine Berg­ket­te be­ginnt. Eine star­ke Abend­son­ne strahlt ihnen ent­ge­gen, ver­wan­delt ihre Kör­per in dunkle Um­ris­se, die lange Schat­ten wer­fen. Das Bild ist sanft ge­malt, die Mo­ti­ve sind Tra­di­tio­nen fol­gend zu­ein­an­der ge­fügt, es ver­mit­telt eine fried­li­che abend­li­che At­mo­sphä­re, wäre da nicht diese Sil­hou­et­te, die an einen Mi­li­tär­man­tel und eine Schirm­müt­ze, an eine be­stimm­te Hal­tung er­in­nert. Man ahnt, dass das Bild Hit­ler mit einem Part­ner zeigt, der im Un­ge­wis­sen bleibt. Man ahnt Un­heil. Der Autor will und kann sich dem Un­heil nicht wei­ter­ge­hend nä­hern. Das Un­heil bleibt im Schat­ten, in der ver­klär­ten Berch­tes­ga­de­ner Land­schaft, in der post­kar­ten­ar­ti­gen ba­na­len Schön­heit des Bil­des auf­ge­ho­ben.

Bil­der die­ser Art mögen „ein Ge­fühl von dem Ge­sche­hen und dem Tat­ort ver­mit­teln. Die mensch­li­che Figur er­scheint…als Puppe oder Zei­chen….in sich selbst ver­schlos­sen, als ein Bild der Scham.“ (Tuy­mans, 33) Der Künst­ler spricht von „ei­ner Art von Bild­ter­ror“ (34). Die Vor­la­ge zu sei­nem Bild hat Al­bert Speer in sei­nen Span­dau­er Ta­ge­bü­chern pu­bli­ziert, ein Schwarz-Weiß-Foto, das er mit fol­gen­dem Text ver­se­hen hat:
„Es war einer jener un­wirt­li­chen Ober­salz­ber­ger Tage, in denen west­li­che Winde tief lie­gen­de Wol­ken von der ober­baye­ri­schen Ebene in das Tal trie­ben, die sich an den um­lie­gen­den Berg­hän­gen dräng­ten und zu an­hal­ten­den Schnee­fäl­len führ­ten. Trotz der Mit­tags­stun­de war es dun­kel, aber we­nigs­tens das Schnee­ge­stö­ber hatte auf­ge­hört. Wir gin­gen den frisch ge­räum­ten Weg hin­un­ter. Rechts und links nied­ri­ge Schnee­wäl­le, im Hin­ter­grund der Un­ters­berg. Die Wol­ken hat­ten sich auf­ge­löst, die Sonne stand be­reits nied­rig und warf lange Schat­ten, und der Schä­fer­hund rann­te bel­lend durch den Schnee. Ein alter, ei­gent­lich schon ge­schla­ge­ner Mann ging im Schnee und press­te ohn­mäch­tig seine ganze Ver­bit­te­rung und seine ver­gif­te­ten Res­sen­ti­ments aus sich her­aus“(35).

Tuy­mans hat die Stra­te­gie des Bild­ter­rors häu­fig an­ge­wen­det, indem er eben­so wie Fo­to­gra­fi­en Hit­lers sol­che von Hey­d­rich, Himm­ler oder Speer ver­wen­de­te.

Bo­rofs­ky

1993 in­sze­nier­te Jo­na­than Bo­rofs­ky (* 1942) in der New Yor­ker Paula Cooper Ga­le­rie die Aus­s­tel­lung „String of Con­s­cious­ness # 3“ über das Thema „Both the Fas­cist and the Idea­list Search for Per­fec­ti­on“. Die Ein­la­dungs­kar­te zeigt in Farb­fo­tos ge­gen­über ge­stellt Por­träts des „Füh­rers“ (mit Schirm­müt­ze, Re­gen­man­tel über Anzug mit weißem Hemd und Kra­wat­te) und des Künst­lers (in blau­em T-Shirt vor Ma­gno­li­en­strauch) (Ab­bil­dung). In einem In­ter­view sagte Bo­rofs­ky: „…..I was born into the world in 1942 – at the mo­ment of Hit­ler´s prime. Hit­ler was an early model for me to study. Even as a child, I tried to un­der­stand why so­me­bo­dy like this exis­ted. I was fa­s­ci­na­ted by the con­cept of con­cen­tra­ti­on camps and why this hap­pe­ned”(36).

Die Über­schrift “Both the Fas­cist and the Idea­list search for per­fec­ti­on” ist mehr­fach über die Wände der Aus­s­tel­lung ge­malt; in großen Fotos dar­un­ter Hit­ler (der Fa­schist) und Bo­rofs­ky (der Idea­list) als Den­ker; acht wei­te­re Fotos der bei­den als Ba­bies, ihrer El­tern, sie mit ihren Hun­den etc., eine Spi­ra­le aus fluo­res­zie­ren­den Plas­tik­be­chern am Boden, an­de­re Ob­jek­te, zwei Pas­tell­zeich­nun­gen rie­si­ger Köpfe von der Decke zum Boden; Zeich­nun­gen und Aqua­rel­le neben Re­pro­duk­tio­nen von Zeich­nun­gen und Aqua­rel­len von Hit­ler als Maler.

(Die Ge­gen­über­stel­lung Fa­schis­mus – Idea­lis­mus ir­ri­tiert, denn ge­ra­de die Fa­schis­ten be­trach­te­ten sich als Idea­lis­ten und ihre Kunst – im Ge­gen­satz zu der rea­lis­ti­schen des Kom­mu­nis­mus – als idea­lis­tisch.)

In der Aus­s­tel­lung zeig­te Bo­rofs­ky elf Mu­sik­vi­deos von „John­nie Hit­ler“. Fotos von Hit­ler, Sze­nen aus Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern schei­nen darin auf, aber auch ein Raum­schiff, ein ver­hun­gern­des Kind in So­ma­lia, ein Mann in einem Roll­stuhl….Rea­gan Ups­haw frag­te in einer Aus­s­tel­lungs­be­spre­chung: „What does Bo­rofs­ky seek to achie­ve by connec­ting him­self in such cryp­tic fa­shi­on to a fai­led art stu­dent who went on to or­ga­ni­ze un­pre­ce­den­ted mass mur­der? Is it sim­p­ly to warn against the „in­ner Fas­cist” in each of us?”(37).

1985/86 ar­bei­te­te Bo­rofs­ky mit Gary Glass­man an dem Film “Pri­so­ners” Er hatte mit 32 weib­li­chen und männ­li­chen Straf­ge­fan­ge­nen in ka­li­for­ni­schen Ge­fäng­nis­sen In­ter­views ge­führt und be­ginnt sei­nen Film mit den Wor­ten: “Why did I got to talk to pri­so­ners? Well, we are all lear­ning to be free. Butt here are peo­ple who make our lives a lot less free…. Could they have been born cri­mi­nals? What can I learn from these peo­ple? What does it mean to be free?”

Bo­rofs­ky schil­dert, wie er nach die­ser Er­fah­rung mit der “dark side” in an­de­ren be­ginnt, über die “dark side” in ihm selbst nach­zu­den­ken. „It was a lo­gi­cal jump from pri­son – going out into the world and stu­dy­ing folks that had done da­ma­ge to peo­ple, picking the ul­ti­ma­te da­ma­ge-doer of the 20th cen­tu­ry, loo­king for is­su­es wi­thin my­self that might be par­al­lel. Anger that I might be fee­ling, fear that I might be fee­ling, the need to con­trol (and that´s the big one) that I might be fee­ling in my own life, that each per­son feels in their life. When do you feel po­wer­less? When do you need to lash out? When do you need to con­trol ano­ther human being? When do we need to con­trol women? It was just a pe­ri­od of study, try­ing to get into his mind and to un­der­stand.”

1992 ver­öf­fent­licht er 12 Mu­sik­stücke „Mu­sic writ­ten and per­for­med by Jon­nie Hit­ler“. In www.ubu.com sind sie auf­ge­führt und zu hören: „Dre­a­mer´s night­ma­re“ „I will kill him“ „The hun­ter and the hun­ted“ „Life/ Force“ „So­ma­lia“ „S­peed of Light“ sind ei­ni­ge der Titel. Unter der Dank­sa­gung an John Cage, Pub­lic Enemy, Jo­hann Se­bas­ti­an Bach, The Sex Pis­tols, Karl Heinz Stock­hau­sen und viele an­de­re steht der Satz: „The­re is a litt­le bit of Hit­ler in all of us.“

Diese Musik läuft rück­wärts. Rück­wärts hat Bo­rofs­ky ei­ge­ne Mu­sik­kon­ser­ven noch ein­mal auf­ge­nom­men, um etwas zu er­rei­chen, das ihn an Musik Afri­kas oder des Mitt­le­ren Os­tens er­in­ner­te. Jon­nie Hit­ler zielt auf eine Art von Hyp­no­se, die durch Ge­be­te und Ge­sän­ge, durch Busch­trom­meln, aber auch, wie Sy­ber­berg in sei­nem Film vor­führt, durch den Gleich­schritt von pa­ra­die­ren­den Sol­da­ten, durch Trau­er­mär­sche und Sprech­chö­re her­vor­ge­ru­fen wer­den kann.


There is still a litt­le bit of Hit­ler in all of us

„Der Fa­schis­mus ist nicht nur ein gest­ri­ges Er­eig­nis. Er ist immer noch da…Es ging mir darum, an­zu­re­gen, einen Aus­gangs­punkt vor­zu­schla­gen, von dem aus wir an­fan­gen kön­nen zu ver­ste­hen, warum die Fa­schis­ten wie­der unter uns sind. Nicht die Alten, die Nost­al­gi­ker, die man als Ka­ri­ka­tu­ren be­zeich­nen könn­te, son­dern die neuen, die jun­gen An­ti­de­mo­kra­ten mei­ner Ge­ne­ra­ti­on.“
Li­lia­na Ca­va­ni zu ihrem Film „Nacht­por­tier“: (112-113)

Die Aus­s­tel­lung der Hit­ler­fi­gur von Mau­ri­zio Cat­te­lan in dem Zen­trum für zeit­ge­nös­si­sche Kunst und Archi­tek­tur „Faerg­fa­bri­ken“ in Stock­holm zeig­te die klei­ne Skulp­tur al­lein im licht­durch­flu­te­ten Raum einer Fa­brik­hal­le – al­lein ge­las­sen, ge­schrumpft, jeder Herr­schafts­ges­te be­raubt. Geis­tert so das Bild Hit­lers durch jenen Zeit­geist, den bil­den­de Künst­ler er­fas­sen? Die aus­ge­brann­te Hülse eines ge­fähr­li­chen Pro­jek­tils? Oder lässt die­ser Zeit­geist Jo­na­than Meese rasen, der nicht ver­mag, sich von jener Va­ter­fi­gur und ihren Brü­dern in der Vor­höl­le zu lösen? Ma­chen es sich der Jude, der Hit­ler in die „Mis­fits“ ein­reiht, und der Russe, der ihn in Tsche­chows Iso­lier­zel­le ver­bannt, zu leicht? Kann eine In­dif­fe­renz, die ihre Gren­ze ab­zu­ste­cken sucht, über sie hin­aus­schie­ßen – wie in jener „I­ko­ne“ des Al­bert Oeh­len? Das Bild Hit­lers er­zeugt stän­dig eine Viel­falt an Fa­cet­ten. Es trans­por­tiert Werte, es schwärt, und es er­neu­ert sich. Werte?

The­we­leit hat jene Tu­gen­den auf­ge­zählt, die sich dem Fa­schis­mus als Le­bens­hal­tung zu­ord­nen las­sen - Liebe zur „Hei­mat“, zum „Va­ter­land“, zur „Trup­pe“ und ihrer „U­ni­form“, zur kämp­fe­ri­schen Aus­ein­an­der­set­zung, zur Jagd, zu Waf­fen, zu Tie­ren –, und Son­tag er­gänzt und stei­gert vor den Wer­ken der Leni Rie­fen­stahl die Kom­po­nen­te des prä­his­to­ri­schen Jä­gers, des „ed­len Wil­den“: phy­si­sche Voll­kom­men­heit, Keusch­heit als Be­wah­rung der Le­bens­kraft, Fe­ti­schis­mus des Mutes, Über­win­dung der Ent­frem­dung in ex­sta­ti­schem Ge­mein­schafts­ge­fühl, Tri­umph des Wil­lens“, „Sieg des Glau­bens“

Und er hat eine ge­mein­sa­me Spra­che zu ana­ly­sie­ren ver­sucht, die er „im­pe­ria­lis­tisch“ nennt, die der „Wirk­lich­keits­ver­nich­tung“ dient. Er geht wei­ter:

„Wenn man ak­zep­tiert, dass es eine „fa­schis­ti­sche“ Art und Weise gibt, die Rea­li­tät zu pro­du­zie­ren und diese dabei als eine …ent­stell­te Form der Wunsch­pro­duk­ti­on an­sieht, dann muss man auch ak­zep­tie­ren, dass der Fa­schis­mus keine Frage der Staats­form ist…­über­haupt nicht eine Frage eines Sys­tems. Dann ist eine Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Fa­schis­mus auch nicht bloß sei­ner schreck­li­chen po­li­ti­schen Aus­wir­kun­gen wegen nötig. Nicht, weil so viele Men­schen ihm zum Opfer fie­len, nicht, weil er dem Sieg des So­zia­lis­mus im Weg steht, nicht, weil er ja „wie­der­kom­men“ könn­te ist es dann pri­mär not­wen­dig den Fa­schis­mus zu ver­ste­hen und zu be­kämp­fen, son­dern viel­mehr weil er dann als stän­dig prä­sen­te oder mög­li­che Form der Pro­duk­ti­on des Rea­len unter be­stimm­ten Be­din­gun­gen auch un­se­re Pro­duk­ti­on sein kann und ist“ (39).


Bo­rofs­ky führt diese Ana­ly­se selbst­be­zo­gen in die Dia­lek­tik ein, in der er die „Ge­fan­ge­nen“ und die „Frei­en“, die „Fa­schis­ten“ und die „Idea­lis­ten“ zu de­fi­nie­ren ver­sucht. Vor dem Hin­ter­grund jener Mo­nu­men­tal­bau­ten, die Hit­ler und Speer plan­ten, er­scheint das Ge­fäng­nis von St. Quen­tin wie eine jener „Trutz­bur­gen“, in denen sich die, die der Frei­heit zu leben be­raubt sind, die sich gegen das Leben stel­len, die „An­ti­mo­der­nen“, die sei­ner ver­wir­ren­den Viel­falt nicht Herr wer­den kön­nen, sich vor ihr ver­ber­gen. Er greift Kie­fers Ar­gu­ment der Ein­füh­lung, der Af­fir­ma­ti­on auf, um fa­schis­ti­sche Züge in sich selbst zu ent­de­cken. Der thea­tra­li­schen Hand­lung, in der jener in Kauf nimmt, sich aus der Glaub­wür­dig­keit zu ent­fer­nen, setzt er aber, dis­zi­pli­niert durch sei­nen Um­gang mit den Ge­fan­ge­nen, eine Hal­tung ent­ge­gen, die nicht in den Wunsch mün­det, ein Fa­schist zu sein, son­dern in der Frage: Bin ich ein Fa­schist?

Aa­chen 2008-03-04


Kunst-ABC 1973-77

Wolfgang Richter, Kulturchef der Aachener Volkszeitung, war im Juli 1973 mutig genug, den jungen Leiter der Neuen Galerie – Sammlung Ludwig einzuladen, von nun an jede Woche einen Artikel über moderne Kunst zu schreiben, der mit dem Titel KUNST ABC in den Samstagsausgaben erscheinen sollte. Wenn das Aachener Publikum ein experimentelles Ausstellungshaus dieser Art 3 Jahre lang ertragen hätte, so verdiente es jetzt Antworten auf viele Fragen, Aufklärung und Bildung in einem Sektor seines Lebens, die ihm Schullehrer schuldig geblieben sind. Ich selbst war an Diskussionen in deutschen Kulturverwaltungen über eine mangelnde Vermittlung in Museen beteiligt; das Fach der Museumspädagogik entstand. Das Angebot, ein KUNST-ABC über eine regionale Zeitung zu verbreiten, motivierte mich, jede Woche einen neuen Text zu erfinden. Es wurden 173. Das KUNST-ABC endete am 26.2.1977. Die Bibliothekarin des Ludwig Forums hat die alten Manuskripte im Archiv ausgegraben, sortiert, nummeriert und mir zu Weihnachten 2018 geschenkt. Ein kostbares Geschenk. Danke.

Dass eine Zeitung sich auf dieses Wagnis einlässt, verrät eine Stimmungslage und einen Stellenwert der Kunst in der öffentlichen Meinung, die unwiederholbar erscheinen. 173 Beiträge zu Minimal Art, Konzeptkunst, Pornografie, Zufall, Accumulation, Nazi-Kunst, Psychedelische Kunst, Mao Tse Tung, Schizophrenie, Japonismus, Bauhaus, Sigmund Freud, Russische Kunst, DDR- und Israelische Kunst mussten so viel Interesse wecken, dass Leser sie jeden Samstag suchen würden (Vielleicht hat sich doch der eine oder andere beschwert.). Und sie steigerten die Neugier auf das kuriose Museum in der Komphausbadstraße, in dem das Kaleidoskop der postmodernen Bilderwelt sich nach allen Seiten ausbreitete. – und die Studenten und die Jazz- und Rockgruppen ein neues Zuhause gefunden hatten.

Das digitale Zeitalter hatte noch nicht alle erfasst. Ich schrieb die Artikel des KUNST_ABC auf Papier und brachte sie jeden Montag in die Redaktion. Wer einen Kulturkalender suchte, war auf die Lokalzeitungen angewiesen. Sie waren wichtig. Heute stehen sie am Rand der digitalen Netzwerke. Bis 2018 hat mir ein Bote die Zeitung in den Briefkasten geworfen, nun lese ich die Aachener Zeitung auf meinem Bildschirm. Wo immer ein KUNST-ABC Menschen heute belästigen würde, vielen, die nach dem Sinn ihres Lebens fragen, würde es nützlich sein.

Ich habe eine Auswahl von 100 dieser Artikel im Frühjahr 2019 in meinem Blog in wordpress veröffentlicht. beckeraachen.blog. Im Wienand-Verlag Köln soll 2020 zum Jubiläum 50 Jahre Neue Galerie + Ludwig Forum ein Buch erscheinen.

Weil ich mich kürzlich zur KUNST geäußert habe, macht es mir Spaß, mit dem Artikel zu beginnen, der auch am Anfang der Serie 1973 stand: WAS IST KUNST? Ich versuche, die alten Maschinen-Manuskripte zu konvertieren.


Lesen Sie hier das gesamte Kunst-ABC


Kunst

Die Fragen: Was ist Kunst? und: "Ist das Kunst? " wurden immer vorzugsweise von Werken der Bildenden Kunst provoziert . Fast nie haben diese Fragen, gestellt an Werke der Literatur, Musik und Architektur solchen Öffentlichkeitsgrad erreicht. Entweder ist ihr Öffentlichkeitscharakter geringer oder aber die Grenzen zwischen dem, was Kunst und dem, was nicht Kunst ist, sind in Literatur und Musik nicht fest zu bezeichnen. Dennoch: man stößt auf geringeren Widerstand, behauptet man den Kunstwert eines bestimmten Zeitungstextes ebenso wie den einer Karikatur oder eines comic-strips, als wenn man fordert, eine scheinbar sinnlose Kombination von Buchstaben möge als Poesie oder eine Leinwand, auf der nichts als graue Farbe zu sehen ist , möge als ein Werk der bildenden Kunst angesehen werden.\ Die Frage: "Ist das noch Kunst?" setzt voraus, dass der Fragende annimmt zu wissen. was Kunst sei. Seine Vorstellung was Kunst ist, ist abhängig von Kindheitserfahrungen, den Vorstellungen seiner Eltern und Lehrer, Kunsterfahrungen seiner Jugend, und zugleich aber ist für ihn Kunst ein Wunschbild von Schönheit und Harmonie, aus dem er alles abzieht, was sein persönliches Leben belastet.

Dieses Wunschbild verfolgt er mit der Begierde des Liebhabers: er will es besitzen. Die Bilder an den Wänden seiner Wohnung, sein "Zimmerschmuck " widerspiegeln das Wunschbild im Verhältnis zu seinen Mitteln. Auf der anderen Seite ist die Frage "Ist das noch Kunst?" Äußerung eines Verdachts. Dass nämlich eine kleine Verschwörung von Künstlern und ihren Helfershelfern einer breiten Bevölkerung Dinge als Kunst vorführe, die gar keine Kunst sind, sie zum Narren halte, sie täusche. Dieses Misstrauen ist ein bürgerliches Regulativ der Autoritätsgläubigkeit. Es gilt nicht nur für Kunst, sondern ebenso für Politik und andere Tätigkeiten, die wenige Delegierte für viele Delegierende tun. Ohne dieses Regulativ ist eine Meinungsbildung über das, was Kunst ist, nicht möglich, zwischen der kleinen Schar derer, die beruflich oder aus Liebhaberei mit Kunst befasst sind, und der breiten Bevölkerung, die der Kunst in Museen, Ausstellungsinstituten und Galerien begegnet. Was Kunst und was nicht Kunst sei, beruht also auf einer Übereinkunft; und zeitweilig ist die Übereinkunft von ebenso großem Erkenntniswert wie das Objekt, das sie veranlasst hat. Denn in der Übereinkunft widerspiegelt sich ein bestimmtes Lebensgefühl, das sich diesen oder jenen Gegenstand als Ausdruck wählt. In der Ägyptischen und Griechischen Antike ebenso wie im Europäischen Mittelalter war der bildende Künstler ein Handwerker unter anderen. Auf der Stufenleiter bürgerlicher Anerkennung stand er an unterster Stelle. Seine Werke waren eingeordnet in ein anschauliches religiöses Weltbild, in dem sie nur der Verschönerung, der Illustration, der Nachahmung von etwas bereits Vorhandenem dienten: In der Römischen Antike um Christi Geburt und in der Italienischen¬ Renaissance des 15. Jahrhunderts tritt zum ersten Mal der Künstler als Genie, als überragende Persönlichkeit hervor, der es gelingt, die Natur- und Geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit in ein bedeutendes Kunstwerk zu binden. Unter neuen religiösen Einflüssen im 16. Jahrhundert wird der Künstler zum Seher, zum Propheten. Je mehr sich die Kunst aus ihren gesellschaftlichen und religiösen Bindungen löste, als autonome, nur eigenen Gesetzen gehorchende Beschäftigung des menschlichen Geistes entwickelte, umso stärker distanzierte sich auch der Künstler von der bürgerlichen Gesellschaft, die ihn umgab. Die zunehmende Vergesellschaftung hat ihn bis heute in die Rolle einer Außenseiterposition gedrängt, in der er Funktionen des Wunschbildes eines frei sich entfaltenden Individuums übernimmt. In diese Freiheit entlassen schafft er sein Werk, unabhängig von gesellschaftlichen Zwängen, fordert andererseits, dass dem Werk gesellschaftliche Bedeutung zugesprochen wird. Um dieser Situation zu entfliehen, haben Künstler seit der Mitte des 19. Jahrhunderts versucht, sich mit gesellschaftlichen, politischen Minderheiten zu verbinden und ihre Werke in deren Dienst zu stellen. Der Bohemien des 19. Jahrhunderts war auf dem Sektor der Kunst, was auf dem Sektor der Politik der Anarchist war. Die gesellschaftliche Integration des Künstlers wird heute mehr denn je diskutiert, ist aber mit Freiheitsbeschränkungen verbunden, die der Künstler, an seine Rolle gewöhnt, ungerne in Kauf nimmt. Sie wird unser Verständnis dessen, was Kunst ist, grundlegend verändern. Gehen wir davon aus, dass Kunst alles ist, was wir nicht anders benennen können, dass andererseits der Künstler für uns in einem relativen Freiheitsraum das Lebensgefühl und Selbstverständnis der Gesellschaft in der er lebt, verbildlichen kann, so wird die Distanz, die er sich von gesellschaftlichen Zwängen schafft, als Erkenntniswert wichtig. Aus dieser Distanz widerspiegelt er die Gesellschaft, in seinem Spiegel können wir uns erkennen. Sein Werk ist unser Arbeits- und Studienmaterial, das uns hilft, als Individuum und als Gruppe nicht in Zwängen zu erstarren, die uns durch Gewohnheit, Herrschaft, verborgene Manipulatoren auferlegt werden. Die Distanz schafft andererseits eine Schwierigkeit des Verstehens. Die Schwierigkeit des Verstehens wird aufgehoben durch Gewohnheiten. Wer gewohnt ist, mit zeitgenössischer Kunst umzugehen, hat größere Möglichkeiten, jedes neu entstehende Kunstwerk zu begreifen, als der, dessen Kunstverständnis von der vorhergegangenen Generation geprägt ist. Dieser ist je nach seiner Vorbildung heute fähig, sich persönlich einem Werk des Impressionismus oder gar von Picasso zu stellen. Wer aber das zeitgenössische Werk bildender Kunst als einen Beitrag zum sozialen Selbstverständnis in einer arbeitsteiligen Gesellschaft begreift, wird nicht mehr nötig haben zu fragen, ob es Kunst sei, sondern sich mit ihm befassen können ais einer sensiblen Äußerung menschlichen Geistes, die heute ihren aktuellen Gesprächspartner, übermorgen erst ihren Historiker und Bewerter sucht.

Aus meinem K U N S T A B C in der Aachener Volkszeitung 1973


Joseph Beuys

Solche Künstler sind vielen bekannt, die viele zu verstehen oder viele nicht zu verstehen glauben. Jene sind die "Dekorateure", diese die "Narren" der Kultur. In den Narren projiziert das Bürgertum seine Wünsche, "anders" zu sein, in der vollkommenen Freiheit individueller Existenz die menschliche Fantasie in alle Bereiche von Sinn und Unsinn, Ordnung und Chaos strömen zu lassen. Der Narr als Wunschbild, wie wir ihn seit Shakespeare kennen, betätigt sich in allen Bereichen, er kann nicht Künstler, Wissenschaftler, Politiker, Theologe sein, er ist auch Künstler, Wissenschaftler, Politiker, Theologe. Und er lehrt Kunst, Wissenschaft, Politik, Theologie usw. - auf seine Weise.

Der Düsseldorfer Akademie-Professor Joseph Beuys, den die Kunsthistoriker für den bedeutendsten deutschen Künstler der Jahrhundertmitte halten, ist dieser "Narr". Er ist weder Maler noch Bildhauer, nennt sich allenfalls Plastiker im französischen Sinn des Wortes "plasticien": Bildner. So ist ihm alles Plastik: der Mensch, die Gesellschaft: Strukturen, die andauernder bildnerischer Arbeit bedürfen. Mittel dieser bildnerischen Arbeit sind Kunst, Wissenschaft, Politik, Theologie. Also bedient er sich ihrer. Also sind sie nicht Selbstzweck. Also hat Beuys nie ein Kunstwerk um seiner selbst willen geschaffen. Also hat Beuys sein politisches Büro nicht um der Politik willen geschaffen. Seine Werke sind nur scheinbar Kunst, Politik, jenen zum Verwechseln ähnlich. Alle Werke, die Beuys hinterlässt, sind nichts als Spuren eines Durchgangs, eines Prozesses, in dem ein Mensch sich stellvertretend als "Plastik" bildet.

Der "Narr" liebt Rätsel und Mystifikationen. Man lese die selbstverfasste Biografie. Der "Narr" extrovertiert sich als Held und Märtyrer: als Beuys 1964 in der Aula der Aachener TH von einem Studenten ins Gesicht geschlagen wird, weil er ihm versehentlich Säure auf die Hose gegossen hatte, erhob er beschwörend die Arme über den blutenden Kopf - mit einem Kreuz in der Hand (das Foto findet sich heute in vielen Büchern). Ein weitverbreitetes Foto von 1972 zeigt ihn besenbewaffnet mit einer Gruppe von Anhängern: Beuys fegt den deutschen Wald. Solche Gesten erscheinen spontan und überlegt zugleich. Immer schaffen sie Bilder, die zeichenhaft eine gesellschaftliche Situation fixieren. Wer anders als der vielbeachtete Künstler Beuys konnte sich bereitfinden, den deutschen Wald zu fegen, als die Umweltverschmutzung auch dort sichtbar wurde, wo für uns regiert wird? Und immer wird nicht das Kunstwerk für sich, sondern der Autor in seiner Rolle als Außenseiter für gesellschaftliche Zwecke eingesetzt.

Die Werke von Beuys sind also eigentlich nicht seine hochgehandelten Objekte, sondern seine "Auftritte". Als "aufführender" Künstler ist er einer der wichtigsten Vertreter der Happening- und fluxus-Bewegung der 50er und 60er Jahre. Man muss die Partituren und Beschreibungen dieser Auftritte studieren, um Beuys zu verstehen. Wer aber die Spuren, die er hinterlassen hat, in ihrer ganzen Fülle auf sich wirken lassen will, wird sie in der Sammlung Ströher des Darmstädter Landesmuseums einzigartig ausgebreitet finden. Das ist eine Suite von Raritätenkabinetten, in denen ein Mensch das abgelagert hat, was ihm als "Plastik" ins Auge fiel. Das ist zugleich ein Formenarsenal, aus dem eine Fülle Jüngerer bis heute schöpfen.

Ja, die berühmte Fettecke vergeht, die Margarine wird ranzig, das Stück beginnt gar zu stinken. Aber wie kann denn einer, der seine künstlerische Geltung nach seiner eigenen Lebensdauer misst, anders handeln, wenn er ein Bild der Vergänglichkeit, des Energie-Austausches schafft? Die Studentenpartei, das Organisationsbüro für Volksabstimmung in der Düsseldorfer Andreasstraße (Sie können Mitglied werden!), das politische Büro in der Kasseler documenta 1972, in denen ein neues Modell der Gewaltenteilung vorgeschlagen wird, - ja selbst der Kampf des Akademieprofessors mit dem Kultusministerium erscheinen jenen naiv, die sie politisch wörtlich nehmen. Ist aber der Autor dieser Werke ein Künstler, so sind sie Kunstwerke, stellvertretend und weisen über sich selbst hinaus.

Es gibt in unserem Land keinen "Narren", der weiser die Gemüter bewegt hat, aufmerken ließ und gesellschaftlichen Emanzipationsbemühungen gedient hat. Dafür nehmen wir die unzähligen jungen Beuyse, die uns heute belästigen, gerne in Kauf. Sie vergessen, dass solche Leistungen nicht nur an die Person, sondern an die bedeutende Künstlergeneration gebunden sind, die sich um 1960 zu Wort meldete.


Kalendergeschichten

Die social media teilen Zustandsbekenntnisse, Kommentare zu Tagesereignissen, Berichte von Erlebnissen, politische Pöbeleien und Berichte über Kunsterfahrungen mit. spontan, improvisiert, und verlieren schnell ihre Aktualität – wie die Tageszeitungen. Der „Trierische Volksfreund“ erschien1875 zuerst 3x wöchentlich, später täglich. Der „Rheinländische Hausfreund“, der Johann Peter Hebels Kalendergeschichten 1803-14 verbreitete, war dagegen ein Jahreskalender, der die Stunden-Aktualität der social media auf die Dauer von Jahren verlängerte. Nachrichten wurden Literatur.Diese Kalendergeschichten sind für Facebook, wordpress, linkedin und twitter geschrieben.

Lesen Sie hier alle Kalendergeschichten