Page 17 - KUNST ABC Leseprobe
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            Auch in jedem Kunstwerk, das menschliche Hand herstellt, sind Zu-
            fälle im Spiel: Eine zarte Wolke in einer Landschaft war ein zufälliger
            Farbspritzer auf der Leinwand, ein Ausrutscher des Bleistifts auf dem
            Papier wird absichtsvoll vereinnahmt, Risse in Marmor oder Bronze be-
            reichern Skulpturen. Dennoch: Bis ins 20. Jahrhundert gab es keinen
            Zufall in der Kunstgeschichte. Erst Futurismus, Dadaismus und Surre-
            alismus haben ihn in den Rang einer künstlerischen Methode erhoben.
            Das Publikum hat nicht aufgehört, den Zufall zu tadeln. Nicht nur den
            Aufführungskünsten („Happenings“) wird er  vorgeworfen, nicht nur
            der zeitgenössischen Musik, sondern auch der Malerei, voran jenen
            Aktionsmalern von Georges Mathieu bis Jackson Pollock, die Farben
            auf Leinwände werfen, spritzen, gießen oder tropfen lassen.
               Das Betropfen der Leinwand, das Jackson Pollock berühmt machte,
            wäre nichts weiter als ein formales Spiel, eine „Klecksografie“ (ein
            Wort aus dem 18. Jahrhundert, das Kritiker gegen vorimpressionisti-        Marcel Duchamp, Network of Stoppages, 1914, Öl und Bleistift auf Leinwand,
            sche Maler im 19. Jahrhundert verwendeten), ginge es nicht von einer       148,9 × 197,7 cm
            historisch gewachsenen Betrachtung der Welt und ihrer Ordnung aus.
            Eine geordnete Welt duldet den Zufall nicht. Bis in die Biografie des
            Einzelnen hinein sind alle Schritte in ein unabänderliches Gesetz ge-       Tagen mit geöffnetem Regenschirm spazieren, bot der ersten Dame,
            fügt. Zerbricht das Weltbild, so entstehen Löcher, Spalten  – durch       der er begegnete, seine Begleitung an: Es könnte ja sein, dass …
            Zufälle. Zufälle stoßen unsere Gedanken in das uferlose Meer der Fan-        Wer den Zufall so hoch wertet, bezweifelt, dass es im Leben Zu-
            tasie. André Breton, der „Papst“ der Surrealisten, erzählt in seinem      sammenhänge, das Gesetz von Ursache und Wirkung gibt. Er sieht
            Buch Nadja, in einer Theatervorstellung, der er mit Pablo Picasso bei-    mehr Unsinn als Sinn um sich her. Die Dadaisten und Surrealisten der
            wohnte, sei ein junger Mann in seine Loge gekommen, habe ihn ange-        ersten Stunde sind gebrannte Kinder des Ersten Weltkriegs. Sie sehn-
            schaut, sich entschuldigt: Er habe ihn für einen Freund gehalten, der     ten sich nach einer Ordnung, doch sie sollte weder von einer Ideologie
            im Krieg vermisst wird. Breton hat später den Dichter Guillaume Apol-     noch von einem rationalen, technologischen, mechanistischen Sys-
            linaire als jenen jungen Mann wiedererkannt.  Jeder kennt solche Ge-      tem erzeugt sein. Ihre Utopie hieß „automatisches Leben“, gelenkt von
            schichten. Breton war sie wichtig, weil er glaubte, man könne die Zu-     dem freien Spiel des Zufalls – und des Unbewussten. Über den Anteil
            fälligkeit aus der persönlichen Bindung lösen, den „objektiven Zufall“    von Sigmund Freud an dieser Vision ist noch zu sprechen. Aber Freud
            erzeugen und künstlerisch verwerten. Ergebnisse des Zufalls sind in       ist nur ein Baustein am Surrealismus. In der dialektischen Spannung
            der surrealistischen Ästhetik „schön“: „Er ist so schön wie die zufäl-    zwischen Notwendigkeit und Freiheit (dem Zwang der Libido und der
            lige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf ei-           Freiheit des Zufalls) entwickelte diese Bewegung ihr Vokabular, das
            nem Operationstisch“, schrieb Lautréamont. Die Surrealisten nahmen        die Kunst bis in unsere Tage befruchtet.
            diesem Zufall die Zufälligkeit; sie versuchten, Zufälle zu erzeugen –
            oder auch ihnen vorzubeugen: Philippe Soupault ging an sonnigen           Erschienen 1974




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