Page 14 - KUNST ABC Leseprobe
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            1958 treffen sich bei den „Internationalen Ferienkursen für Neue Mu-
            sik“ in Darmstadt der US-Amerikaner John Cage und der Südkoreaner
            Nam June Paik. Paik ist 26 Jahre alt und hat in den Universitäten Tokio,
            München und Freiburg Musikwissenschaften, Komposition, Ästhetik
            und Kunstgeschichte studiert. Die Begegnung mit Cage ist ein Schlüs-
            selerlebnis. Paik wird zum Pionier des Fluxus in Europa und Bahnbre-
            cher der Videografie in den USA. Cage hatte die Revolution gegen die
            bürgerliche Musikästhetik eingeleitet, indem er ihre Praxis desavou-
            ierte: Ein dem Anlass gemäß gekleideter Pianist spielt vor einem Pub-
            likum in einem Konzertsaal drei Sätze einer Sonate, die 4 Minuten und
            33 Sekunden dauert, ohne eine Taste zu berühren (4‘ 33“, 1952 ge-
            spielt von David Tudor – das erste Happening). Cage verfremdete den
            Klang von Klavieren, nahm Geräusche zwischen Lärm und Stille in
            seine Kompositionen auf und beteiligte Tänzer und bildende Künstler
            an seinen Aufführungen. Paik war begeistert.
               Im gleichen Jahr, 1958, zieht er nach Köln, um im Studio für elektro-
            nische Musik des WDR zu arbeiten, das Karl Heinz Stockhausen leitet.      Nam June Paik 1985 in der Neuen Galerie Sammlung Ludwig, Aachen
            Das erste Stück, das er hier entwickelt, heißt Hommage à John Cage. Er
            benutzt dazu zwei Klaviere, eines davon ohne Tasten, Tonbandgeräte,
            Steine in Blechbüchsen, ein Spielzeugauto, eine Kunststofflokomo-
            tive, ein rohes Ei, eine Glasscheibe, eine Flasche mit Kerzenstummel      Musikkultur gerichtet. Kaum ein Künstler hat so viele Klaviere und
            und eine Spieldose. Ein Augenzeuge: „Aus den Tonbändern erklang             Violinen zerstört – mit der Grazie eines Karate-Kämpfers: One for
            der Schrei von 20 bedrängten Jungfrauen (Hommage an St. Ursula in           Violin Solo, 1962 in den Düsseldorfer Kammerspielen: Auf matt be-
            Köln!), danach der Nachrichtendienst des WDR. Der Komponist warf          leuchteter Bühne hebt er sehr, sehr langsam von einem Tisch vor ihm
            das Ei an die Wand und spielte 30 Sekunden nach Metronom und Spiel-       eine Violine empor und (alle warten gespannt) zerschlägt sie blitz-
            dose ‚normal‘ auf dem Tastenklavier. Im zweiten Satz sprang Paik kore-    schnell an der Tischkante.
            anisch brüllend im Zimmer umher, pfiff auf der Kunststofflokomotive,         Zeitgleich stellt der französische Künstler Arman große Assembla-
            löschte das Licht und entzündete die Kerze. Der dritte Satz begann ver-   gen aus zerschlagenen Geigen und Celli aus. Zerstörerische, revoltie-
            halten im Kerzenschimmer. Zwei Knallfrösche jagten angenehmes             rende Bildgesten der Kulturerneuerung finden sich im Pariser Nouveau
            Schaudern durch die Knochen der Konzertbesucher. Aber im vierten          Réalisme ebenso wie in der New Yorker Pop-Art und der Happening-
            Satz, dem Finale furioso, raste Paik wie ein Berserker durch die Ge-      und Fluxus-Bewegung. Paik war in den 1960er Jahren ein Kulturanar-
            gend, zersägte mit einem Küchenmesser die Klaviersaiten und kippte        chist wie 40 Jahre vor ihm der Kölner Max Ernst. Aber er lebte im elek-
            am Ende den Klimperkasten um. „Pianoforte est morte.“ Seine Fluxus-       tronischen Zeitalter.
            Aktionen sind, anders als die Musikaufführungen von Cage, in äußers-
            ter Aggressivität gegen die „Möbel“ der traditionellen europäischen       Erschienen 1974




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