Page 11 - KUNST ABC Leseprobe
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M I N I M AL AR T
Minimal Art ist nicht die kleinste, aber einfachste aller Kunstformen in
dem Sinn, dass eines ihrer Werke als Kunstwerk nicht erkennbar ist. Es
sprengt unsere Gewohnheiten.
Wer 1971 den Park von Sonsbeek (Arnheim, Niederlande) betrat,
stand plötzlich dicht vor einer schwarzen Wand, 12 m hoch, 5 m breit,
das Ende einer 25 m langen ansteigenden Rampe. Er stolperte über
eine 10 cm hohe, senkrecht aus dem Boden ragende Eisenplatte, 3 m
lang. Ihre schrägen Enden wiesen nach unten: Sie war ein gleichseiti-
ges Dreieck, das tief in die Erde gesenkt war. Die mächtige Rampe von
Ronald Bladen überwältigte, das verborgene Dreieck von Robert Gros-
venor provozierte. In der Kasseler documenta 5 1972 ließ Richard Serra
vier Eisenplatten – je 2,4 m × 7,3 m × 2,5 cm – in einem quadratischen
Raum so aufstellen, dass nur die Mauerecken sie hielten. Die einfache
stereometrische Form erschien allen gefährlich.
Die psychologische Wirkung eines Steins wächst mit der Wasser-
fläche, deren Ruhe er stört. Nicht nur psychologische, sondern auch
ästhetische Kategorien lassen sich dehnen, zerdehnen. Jo Baer ver- Sol Lewitt, 3 Part Set 789 (B), 1968, Stahl, Tesafilm, gespritzt, 80 × 208 × 50 cm
dünnt eine rote Rahmenleiste um ein weißes Bildfeld so weit, dass sie
kaum noch sichtbar ist. Dennoch erscheint unseren Augen die weiße
Fläche rot getönt. Wir sind im Labor der Künstler. Sie untersuchen
Grenzsituationen. Sie müssen dabei nicht an Kunst denken. Dem Vor einem zu großen Bild verschließen wir die Augen. Ein Bild, das sehr
Kunsthistoriker ist das Forschungsfeld vertraut, weil er zur Bestim- groß und sehr einfach ist, überwältigt uns.
mung dessen, was Kunst ist, ständig ihre Grenzen neu definiert, und Minimal Art ist ein kleines, kurzes Kapitel der Kunst- und Ausstel-
weil der Versuch, Gestaltungsprinzipien auf ein Minimum zu reduzie- lungsgeschichte. Nur wenige Werke bieten sich Sammlungen an, Woh-
ren, Teil der Kunstgeschichte ist. Als Künstler wie Wassily Kandinsky nungen und Museen sind zu klein. Zwischen 1968 und 1971 wurde Mi-
um 1910 die Kunst vom Zwang zur Gegenständlichkeit befreiten und die nimal Art durch Ausstellungen bekannt. Sie erhob einen utopischen
ersten abstrakten Bilder malten, setzte Kasimir Malewitsch ein schwar- Anspruch, der weiterwirkt, und den Künstler periodisch neu formulie-
zes Quadrat in ein weißes Bildfeld. Nichts weiter. Die Geste erscheint ren werden. Minimal Art erscheint anonym, industriell gefertigt, ver-
noch immer herausfordernd, die Stellung der schwarzen Form im wei- zichtet auf Handfertigkeit. Sie unterläuft den Wunsch des Künstlers, in
ßen Feld revolutionär, gefährlich. Das konventionelle Tafelbild, das die der industriellen Gesellschaft wirksam zu sein, ohne als Handwerker,
Geste trägt, ist klein, größer ist die Wirkung dort, wo Gegenstände Designer der Wohlstandsgesellschaft gelten zu müssen, durch Kunst-
menschliche Maße, die Grenzen unserer Wahrnehmung übersteigen. losigkeit, dimensionale Übertreibung. Sie irritiert und überwältigt.
Grenzen der Wahrnehmung: In einem allzu vielfältigen Bild verlieren
wir uns, ein allzu einfaches Bild löst allzu schnell Assoziationen aus. Erschienen 1973
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