Page 10 - KUNST ABC Leseprobe
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Wer die Leinwand als Dokument einer Handlung begreift, beginnt zu
vergessen, dass sie ein Bild ist. Er sieht sie nicht mehr auf der Staffelei.
Wassily Kandinsky berichtet, dass ihn ein Schlüsselerlebnis ermutigt
hat, als Erster in Europa abstrakt zu malen: Er kehrte eines Abends in
sein Atelier zurück und erblickte eines seiner Landschaftsgemälde auf
dem Kopf an die Wand gelehnt. Auf der Staffelei habe er es sich kopf-
über angeschaut, um das Gleichgewicht der Farben und Formen zu
prüfen, aber so nicht zurückgelassen. An der Wand habe er sein Bild
nicht sofort erkannt. Die Anekdote soll den Ursprung der abstrakten
Malerei erklären. Eine Landschaft auf dem Kopf ist noch immer eine
Landschaft. Georg Baselitz hat in einer ganzen Bildserie versucht, das
zu beweisen. Er malte einfach Gegenstände auf dem Kopf und irritierte
den Betrachter, der versuchte, sie umzudrehen.
Immerhin: Kandinsky bediente sich dieser Anekdote, um die er-
oberte geistige Distanz zur Leinwand als Bild zu verteidigen. Ein hal-
bes Jahrhundert später hatten alle diese Lektion verstanden. Nun
konnten die Maler die Leinwand in aller Offenheit dafür bestrafen,
dass sie so lange nicht nur Leinwand, sondern Bild war. Salvador Dalí
und Niki de Saint Phalle schossen auf sie, Lucio Fontana schlitzte sie,
Alberto Burri versengte sie, Georges Mathieu und Karel Appel bewar-
fen sie mit dicken Farbklumpen. Sie alle behandelten sie noch so lange Georg Baselitz, Singvogel, 1971, Öl auf Leinwand, 162 × 130 cm
Ludwig Forum für Internationale Kunst Aachen, Leihgabe der Peter
als Bild, wie sie sie auf der Staffelei oder an der Wand senkrecht auf- und Irene Ludwig
bauten. An dieser Grundregel abendländischer Bildgestaltung änder-
ten sie nichts.
Was dann geschah, ist nicht ohne starke ostasiatische Einflüsse zu Fußboden und bezeichnen sie mit durch Stangen verlängerte Pinsel.
begreifen. Das Verhältnis der Chinesen und Japaner zum Bild ist locke- Es gibt ostasiatische Anekdoten, die um die Spannung zwischen Ver-
rer, weil es nicht zum festen Bestand ihrer Sehgewohnheiten gehört. liebtheit ins Detail und monumentalem Format kreisen: Ein weiser Ma-
Es hängt nicht an der Wand, sondern wird bei besonderen Gelegenhei- ler, vom Kaiser beauftragt, einen Singvogel auf einem blühenden
ten hervorgeholt und entrollt. Es kann aufgerollt werden, weil es in Baumzweig zu malen, zögert über mehrere Wochen, der Herrscher
Wasserfarben auf Papier gemalt ist. Und weil der Bildgrund Papier ist, zwingt ihn, am letzten Tag der Frist in seiner Anwesenheit die Arbeit zu
wird es auch nicht in vertikaler Stellung auf der Staffelei, sondern in vollenden, der Weise tritt vor ein großes Papier auf dem Fußboden,
horizontaler Position geschaffen. Es wird mit Tusche gezeichnet. Das hebt einen besenartigen langstieligen Pinsel und tuscht zart in eine
Verhältnis des Zeichners zu dem Blatt Papier ähnelt dem des Schrei- Ecke des Blattes den gewünschten Vogel.
bers, Die Asiaten kennen keinen grundsätzlichen Unterschied zwi-
schen den beiden Tätigkeiten. Große Papierbögen legen sie auf den Erschienen 1976
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