Page 9 - KUNST ABC Leseprobe
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            Die Fragen „Was ist Kunst?“ und „Ist das Kunst?“ wurden von Werken
            der bildenden Kunst provoziert, weniger von Werken der Literatur, Mu-
            sik und Architektur. Entweder sind diese weniger umstritten, oder aber
            die Grenzen zwischen dem, was Kunst und dem, was nicht Kunst ist,
            sind in Literatur, Musik und Baukunst nicht fest zu bezeichnen. Man
            kann den Kunstwert eines Zeitungstextes, eines Comics oder einer
              Karikatur leichter glaubhaft machen als den einer scheinbar sinnlosen
            Kombination von Buchstaben (Poesie) oder einer Leinwand, auf der
            nichts als graue Farbe zu sehen ist (Gemälde).
               Wer fragt, „Ist das noch Kunst?“ glaubt zu wissen, was Kunst ist.
            Sein Wissen beruht auf Kindheitserfahrungen, den Vorstellungen sei-
            ner Eltern und Lehrer, Kunsterfahrungen seiner Jugend; zugleich mag
            ihm Kunst ein Wunschbild von Schönheit und Harmonie sein, aus dem
            er alles abzieht, was sein persönliches Leben belastet. Dieses Wunsch-
            bild verfolgt er mit der Begierde des Liebhabers: Er will es besitzen.
            Die Bilder an den Wänden seiner Wohnung, sein „Zimmerschmuck“,
            spiegeln das Wunschbild im Verhältnis zu seinen Mitteln wider.
               Aber die Frage „Ist das noch Kunst?“ kann auch den Verdacht ent-
            halten, dass eine kleine Verschwörung von Künstlern und Helfershel-
            fern einer breiten Bevölkerung Dinge als Kunst vorführt, die keine
            Kunst sind. Dieses Misstrauen ist ein bürgerliches Regulativ der Auto-
            ritätsgläubigkeit. Es gilt nicht nur für Kunst, sondern ebenso für Politik
            und andere Tätigkeiten, die wenige Delegierte für viele Delegierende
            tun. Ohne dieses Regulativ ist eine Meinungsbildung über das, was
            Kunst ist, zwischen der kleinen Schar derer, die beruflich oder aus
            Liebhaberei mit Kunst befasst sind, und den vielen, die der Kunst in
            Museen, Kunsthallen und Galerien begegnen, nicht möglich. Die Dele-
            gierten sind in einer Übereinkunft verbunden, und sie ist von ebenso
            großem Erkenntniswert wie das Objekt, das sie veranlasst hat. Denn in
            der Übereinkunft reflektiert sich ein bestimmtes Lebensgefühl, das
            sich diesen oder jenen Gegenstand als Ausdruck wählt.
               In der ägyptischen und griechischen Antike ebenso wie im euro-         Robert Rauschenberg, Odalisque, 1955–58, Holz, Stoff, Papier und andere
            päischen Mittelalter war der bildende Künstler ein Handwerker unter       Materialien, 205 × 58 × 58 cm







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