Page 13 - KUNST ABC Leseprobe
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1968 malte Heinz Mack sein letztes ZERO-Bild, Bruce Nauman schuf
den Betonklotz A cast of the space under my chair als eine neue philo-
sophische Form einer Skulptur. Fotografie und Film wurden digital.
Alle spürten den „Paradigmenwechsel“ – beschrieben von Thomas S.
Kuhn 1962 in The Structure of Scientific Revolutions – zu einer neuen
Epoche: den Nullpunkt.
Damals aß der amerikanische Künstler Joel A. Fisher tagelang
nichts als gewässertes Papier und befreite sich von einem zunehmend
sauberen Pulp, den er in kleinen Papierbögen trocknete. Er fotogra-
fierte die unansehnlichen Fetzen ebenso wie selbstgemachte Schuhe
und eine Serie von mit Fäden umwickelten Steinen. Die Aufnahmen
von ihnen ließen sie vorsintflutlich erscheinen: Er hatte sie mit einer
aus Fundholz zusammengefügten Camera obscura aufgenommen.
Seine Nikon benutzte er, um Augen zu fotografieren: Wir nahmen un-
sere rechten Augen auf, er meins, ich seins. Solche Paare stellte er auf
seinen Reisen durch Europa her. Die Augenerkennung gibt den Sehor-
ganen eine besondere Suggestivkraft.
Für eine Ausstellung tupfte Fisher mit einem spitzen Pinsel etwa
100 schwarze Tuschpunkte in Abständen von 5 cm auf große Papierbö-
gen, fotografierte einige und vergrößerte sie auf DIN-A4-Fotoabzügen.
Wer die großen Flecken, Kleckse nicht als selbstständige Chiffren von
Ausdrücken begreifen wollte, suchte ihre winzigen „Väter“ auf den Bö-
gen. Vergrößerung und Verkleinerung traten als Elemente der Wahr-
nehmung in den Vordergrund. Fisher liebte solche Kontraste zwischen
groß und klein, alt und neu. Und das Alte war nicht das von gestern,
sondern das des Altertums, der Prähistorie. In aller Stille setzte er die
Revolution von 1900 fort, in der die Maler in der Völkerkunde die Vor-
zeit und die Baumeister die Grundformen der Architektur entdeckten.
Es ist ein Abenteuer, in den Partituren der Pinselkleckse die Kalli-
gramme zu entdecken, die in der Vergrößerung eine autonome Bedeu-
tung erlangen – wie die Luft unter dem Stuhl von Bruce Nauman, wenn Joel Fisher, 100 schwarze Punkte, 1975, schwarze Tusche, Pinselspritzer, Abstand 5 cm
auf selbst geschöpftem Papier, 24 × 18 cm
sie in Beton gegossen wird.
Auf der documenta 5 stellte Joel Fisher 1972 SOAP aus Butter und
Lauge her und zeigte Hair Squares aus Haaren und Nägeln. Die kunst-
historischen Museen der Zukunft werden anders, anthropologischer
aussehen als die unserer Tage.
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