Page 15 - KUNST ABC Leseprobe
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S      S C H I Z O P HR E N I E



            Seelische Folgen körperlicher Krankheiten lassen sich diagnostizieren
            und behandeln. Wie sichtbar aber ist eine psychische Krankheit? Das
            Interesse der Kunstwelt an Bildern von „Geisteskranken“ spiegelt das
            Dilemma der Medizin wider. Stehen „Geisteskrankheit“ und Kunst in
            einem Zusammenhang? Unter den Geistes-„Kranken“ sind die chroni-
            schen Schizophrenen die fruchtbarsten „Künstler“. Ihr von der Norm
            abweichender Zustand ist gekennzeichnet durch dauerndes Versagen
            einzelner Funktionen des Ich. Damit verändern sich ihre Vorstellungen
            von Welt. Der „Normale“ bemerkt mit Erstaunen vor ihren Bildwerken,
            dass sie die Grenzen seines Bewusstseins erweitern, Denkklischees
            verändern  –  Funktionen,  die  er  Künstlern  zugeschrieben  hatte.  Tat-
            sächlich ist bewiesen, dass weder Laien noch Künstler selbst Kunst-
            werke von Arbeiten Schizophrener unterscheiden können; Verkümme-
            rung von Formen, Umbildungen, Formzerstörungen, Elemente der Geo-
            metrisierung und Stereotypisierung treten hier wie dort auf. Erst wenn
            der klinische Befund mitgeliefert wird, erlauben die Werke Aussagen
            über Entwicklungsphasen einer „Krankheit“. Ist die Schizophrenie ein
            Modell für das Schöpferische überhaupt (Alfred Bader)? Ohne Zweifel
            sind die Grenzen zwischen Kreativität und Ich-Störung, Außer-sich-
            Sein nicht absolut, sondern Ergebnisse einer Rollenverteilung in ei-
            nem historischen sozialen Gemeinwesen. Schon heute ist unser Inter-
            esse an der Kunst der Schizophrenen auf Rückblicken begründet.
            Denn durch die verfeinerten Behandlungsmethoden der Arbeits- und                Franz Karl Bühler, Fabeltiere im Zimmer, um 1909–16, Fettkreide,
            Milieutherapie und der Pharmaka wird verhindert, dass die Kranken               gewischte und lavierte Kreide auf Zeichenpapier, 41,4 × 31,9 cm
            weiterhin so originelle, schöpferische Sonderleistungen vollbringen
            wie ihre Väter. Ihre „Kunst“ wird zunehmend uninteressant. Auf der
            anderen Seite ist das Verhältnis von Kunst zur „Irrenkunst“ dadurch       kranker Sonderling ist“, sagt Theodor Spoerring im Katalog. Der Ich-
            kompliziert geworden, dass wir beide nicht mehr abstrakt miteinander      Verlust, das gestörte Verhältnis zur umgebenden Welt, die Vorstel-
            vergleichen können. Zuviel schon verdanken die Künstler des 20. Jahr-     lung, ferngelenkt zu werden, die technologische Obsession, ich, der
            hunderts ihren Gefährten in den Asylen, zu oft schon haben sie sie        Mensch, sei eine Maschine, die Berührungsangst – alle diese Merk-
              zitiert. In den 1970er Jahren häufen sich die Zitate, die Grenzen zerflie-  male des Schizophrenen und ihre Niederschläge in Bildern sind zeit-
            ßen. Ironisch pointiert wäre der einzige Unterschied, dass die einen      typische existenzielle Ängste, die ihren Werken eine Gültigkeit geben,
            ambulant, die anderen stationär behandelt werden. Auf der documenta       die wir nur in denen von Künstlern gesucht haben.
            5 1972 wurden in der Abteilung „Individuelle Mythologien“ Werke von
            A.S. gezeigt: „Es ist fraglich, ob A.S., ein Schizophrener oder ein nicht   Erschienen 1975




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