Page 5 - KUNST ABC Leseprobe
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            Gedanken über Ausdrucksfähigkeiten und ihre Bedeutungen. Der An-          „Hier ist ein Punkt dargestellt, der in Wirklichkeit das Ende einer Linie
            thropologe studiert im Körperkunstwerk die Aktion, im Happening die       ist, die in einem Winkel von 90° zur Fläche liegt. Im gleichen Augen-
            Reaktion. Ich – Du ist hier Ich – Ich: Künstler und Kunstwerk sind eins.   blick, in dem er an dieser Stelle wahrgenommen wird, bewegt er sich
            Timm Ulrichs publizierte sein Abbild: „Ich bin ein Kunstwerk“. Body       in Lichtgeschwindigkeit (300.000 km/sec.) von seinem Betrachter
            Art ist in den 1970er Jahren dem Happening in Amerika und Europa          fort, umkreist die Erde und kehrt in diesen Raum zurück, bevor diese
            gefolgt. Die amerikanischen Künstler untersuchen das Verhältnis des       Worte gelesen worden sind, und kommt an einem Punkt auf der Wand
            Körpers zu dem ihn umgebenden Raum, seine Raumempfindungen,               hinter dem Betrachter zur Ruhe.“ – Douglas Huebler –
            sein Verhalten zu anderen Körpern im Raum. Vito Acconci ertastete in         Vor mir liegen der Katalog  Kunst –  über  Kunst des Kölnischen
            der documenta 5 mit verbundenen Augen stundenlang einen kleinen           Kunstvereins und das Buch On Art – Über Kunst von Gerd de Vries. Sie
            Raum, der ihn einschloss, und protokollierte sprechend den Versuch,       führen jene Gruppe zeitgenössischer Künstler vor, die nicht einmal
            den „Innenraum“ seines Körpers mit dem Außenraum deckungsgleich           mehr Konzepte als Kunstwerke vorstellen, sondern visuelle oder ver-
            zu machen.                                                                bale Gedanken über Kunst. Sie geben Anlass, einige Gedanken zum
               Zu den Europäern gehört Klaus Rinke: Er hat in langen Reihen von       Träger künstlerischer Mitteilungen vorzustellen.
            Fotos und Filmaufnahmen seines Kopfes und seiner Hände eine Zei-             Die frühesten Bildträger der Kunstgeschichte sind Höhlen- und
            chensprache zu entwickeln versucht. Dagegen hat die Fluxus-Bewe-          Tempelwände und formbare Materialien wie Holz, Knochen und Steine.
            gung einige Körperkünstler hervorgebracht. Die Wiener  Aktionisten        Im alten Ägypten kommen Papyrusblätter und -rollen dazu, später Per-
            um Günther Brus, Hermann Nitsch und Otto Mühl haben in der Tradi-         gament und Tierhäute. Selbstständige, transportable Tafelbilder auf
            tion der französischen Surrealisten psycho-pathologische Haltungen        Holz und Leinwand gibt es erst seit dem 13./14. Jahrhundert. Der Bild-
            und Handlungen bis zur Selbstverstümmelung vorgeführt und den ge-         träger gibt dem Bild einen natürlichen Rahmen, doch treten bereits in
            marterten menschlichen Körper als Opfer gesellschaftlicher und ideo-      frühesten Wandbildern künstliche Rahmungen hinzu, die dazu dienen,
            logischer Zwänge dargestellt.                                             Abteilungen zu schaffen und Bildhierarchien aufzubauen. Der Rahmen
            Body Art wird in Fotografien, Filmen, Videos und Büchern der Nachwelt     des Tafelbildes, wie wir es kennen, ist in der Regel quadratisch oder
            überliefert. In den Schauräumen der Museen oder als Handelsware in        rechteckig und betont die Wertigkeit des isolierten Ausschnitts. So
            den Galerien wird man sie selten finden.                                  sind die Rahmen des Barock und Rokoko als vergoldete Holzschnitze-
                                                                                      reien oft so übermächtig, dass sie das eingeschlossene Bild zu über-
            Erschienen 1976                                                           spielen drohen.
                                                                                         Das Bildrechteck setzt ein Wandrechteck voraus, auf dem es hängt,
                                                                                      also Architektur, Wohn- und Lebenseinheiten, die von einer Geometrie
                                                                                      des rechten Winkels beherrscht sind. Das setzt eine Anschauung von
                                                                                      Welt voraus, die auf einem berechenbaren, rationalen Ordnungsgefüge
                                                                                      beruht. Die Form des Bildträgers ist also Ergebnis einer Weltanschau-
                                                                                      ung, und diese Weltanschauung scheint auch seine Materialität über
                                                                                      Jahrhunderte stabilisiert zu haben: Papier, Leinen, Holz, Stein, Metall –
                                                                                      Mineralien, Öl, Wasser. Die Gesetzmäßigkeiten des Bildträgers sind
                                                                                      heute infrage gestellt. Wir begegnen an Orten zeitgenössischer Kunst




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