Page 4 - KUNST ABC Leseprobe
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            Es gibt Künstler, die viele zu verstehen und viele nicht zu verstehen
            glauben: „Dekorateure“ einerseits, die die Salons ausstatten, „Bohe-
            miens“, „Hippies“, „Narren“ der Kultur andererseits, in die das Bürger-
            tum seine Wünsche, „anders“ zu sein, projiziert, in der vollkommenen
            Freiheit individueller Existenz die menschliche Fantasie in alle Berei-
            che von Sinn und Unsinn, Ordnung und Chaos strömen zu lassen. Der
            historische Narr als Wunschbild schlüpft in die Rollen des Künstlers,
            Wissenschaftlers, Politikers, Theologen und lehrt Kunst, Wissen-
            schaft, Politik, Theologie – auf seine Weise.
               Joseph Beuys hat Elemente des historischen Narren benutzt, um
            das Bild des Professors einer Kunstakademie zu revolutionieren. Er ist
            Plastiker im französischen Sinn von plasticien: Bildner. Er lehrt, dass
            der Mensch, die Gesellschaft, die Strukturen, in denen sie leben, an-
            dauernder bildnerischer Arbeit bedürfen: Kunst, Wissenschaft, Poli-
            tik, Theologie. Er befreit die Disziplinen von ihrem Selbstzweck, be-
            freit die Kunst, nur Kunst, die Politik, nur Politik zu sein. Er riskiert
            missverstanden zu werden, wenn seine Zeichnungen oder Skulpturen
            als Kunstwerke geschätzt oder sein politisches Büro für vordergrün-
            dige politische Diskurse missbraucht wird. Alle Werke, die Beuys hin-
            terlässt, sind nichts als Spuren eines Durchgangs, eines Prozesses, in
            dem ein Mensch sich stellvertretend als „Plastik“ bildet.
               Der Narr liebt Rätsel und Mystifikationen. In der selbstverfassten
            Biografie skizziert Beuys das Bild des Helden und Märtyrers. Als er
            1964 in der Aula der Aachener TH von einem Studenten ins Gesicht
            geschlagen wird, weil er ihm versehentlich Säure auf die Hose gegos-
            sen hatte, erhob er beschwörend die Arme über den blutenden Kopf,
            mit einem Kreuz in der Hand – das Foto findet sich heute in vielen        Lothar Wolleh, ohne Titel (Joseph Beuys im Moderna Museet, Stockholm), 1971–1976,
              Büchern. Ein anderes von 1972 zeigt ihn besenbewaffnet mit einer        Analoger Silbergelatine Abzug auf Leinen, 485 × 473 cm
            Gruppe von Anhängern: Er fegt den deutschen Wald. Umweltver-
            schmutzung ist in aller Munde. Aktionen, die spontan und überlegt
            zugleich erscheinen, schaffen gesellschaftlichen Konflikten gültige
            Bilder. Nicht ein Kunstwerk, sondern den Autor, den Exzentriker, den
            Handelnden vor den Kameras setzt er zunehmend für gesellschaftli-
            che Ansprüche ein. Als „aufführender“ Künstler ist er einer der wich-
            tigsten Vertreter der Happening- und Fluxus-Bewegung der 1950er und




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