Page 3 - KUNST ABC Leseprobe
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A US S T E L L UN G
Der Künstler lädt Freunde und Sammler in sein Atelier ein, der Bischof
weiht ein neues Altarbild, der Bürgermeister lobt eine neue Skulptur
vor dem Rathaus, oder die Kunsthistoriker des Louvre eröffnen eine ak-
tualisierte Hängung von Werken der Renaissance – das sind andere als
die Ausstellungen zeitgenössischer Kunst, die sich seit dem 18. Jahr-
hundert entwickelt haben, als die Pariser Künstler jährlich ihre Werke
dem Urteil einer Jury unterwarfen, um im Salon de Paris vor großem
Publikum und den Kritikern der Zeitungen auszustellen. Der zweite, der
Salon des Refusés (der Abgelehnten), der den offiziellen seit 1863 be-
gleitete, und die großen Ausstellungen, die ihnen bis zur documenta in
Kassel und den Biennalen in der ganzen Welt folgten, vermitteln nicht
Kunst, sondern schaffen sie. Sie haben Kirche und Adel das Privileg
entzogen, ihre Hüter zu sein, erregen ein wachsendes Publikum, vertei-
len Kunst über Ländergrenzen hinweg in Sammlungen, am Ende aner-
kennen Millionen ihren Bildungs- und Unterhaltungswert.
Ausstellungskunst entsteht im Wettbewerb der Künstler unterein-
ander. Jacques-Louis David, Théodore Géricault und Eugène Delacroix
waren die ersten, die große Formate wählten, um im Salon aufzufallen.
Der Kalifornier Paul Sarkisian überraschte die Besucher der documenta
5 1972 in Kassel mit einem fotorealistischen Bild einer verfallenden
Hütte von 4 × 8 m Größe. In Ausstellungen bewertet die öffentliche Mei-
nung die Kunstwerke, entscheidet über ihren Erfolg und ihre Preise.
Ausstellungen konstituieren Kunstwerke – ein Urinoir, ein Flaschen-
trockner und ein Fahrradrad, die Ready-mades von Marcel Duchamp
sind nach ihrer ersten Ausstellung als Kunstwerke akzeptiert und in die
Kunstgeschichte aufgenommen worden. Viele andere Kunstwerke bis
zu Environments und Installationen haben nur eine Ausstellung über-
dauert. Solche Ausstellungen können selbst Kunstwerke sein: Der
Künstler gestaltet den Raum selbst – mit Leinen, Dachpappe, Zement,
Erdöl, Duftessenzen – und lädt den Besucher ein, sich in dieser „Woh-
nung“ zu bewegen. Die Ausstellung des amerikanischen Lichtkünstlers
Dan Flavin in der Kölner Kunsthalle 1974 bestand am Ende nur aus eini- Kurt Schwitters, Merzbau (Blaues Fenster), 1933, Installation, zerstört 1943, Papier,
Karton, Gips, Glas, Spiegel, Metall, Holz, Stein, bemalt, diverse Materialien und
gen hundert Neonröhren. Aber diese Röhren haben nicht nur eine be- Elektrobeleuchtung, 393 × 580 × 460 cm; Foto: Glasplattennegativ s/w, 24 × 18 cm
schränkte Lebensdauer, sondern werden so nicht mehr hergestellt.
Sammler und Museen sind gehalten, Vorräte anzulegen.
Erschienen 1975
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